Wie du Ihr
Hütte ist düster und staubig und es muss draußen schon sehr stürmisch sein, damit sie behaglich wirkt. Wir entschieden uns für den verwitterten Picknicktisch vor der Hütte und breiteten unser Mittagessen aus: ein üppiges Mahl dank der Tatsache, dass wir unsere Ration vom Vorabend noch nicht verspeist hatten.
Den Nachmittag verbrachten wir selbstvergessen am Fluss, während uns der berüchtigte Wind der Tararua-Berge weitestgehend verschonte. Es war einer jener Tage, an denen man am liebsten fragen würde, warum das Leben nicht immer so sein kann. Trotzdem tut man es nicht, weil man genau weiß, wie dumm diese Frage ist. Weil das Leben unmöglich immer so sein kann.
9
20. April
Jemand hat hier ein Radio stehen lassen. Eins von diesen kleinen Plastikdingern, wie sie Lewis immer mit sich herumschleppt, nur dass es gelb und nicht orange ist. Vielleicht hat Andrew es für mich hingestellt. Er hat nichts mehr zu mir gesagt und ist auch nicht mehr hier aufgekreuzt. Vielleicht will er mir damit zeigen, dass er es gut mit mir meint. Vielleicht ist es auch eine Falle. Von jemandem, der testen will, wie viel ich wirklich verstehe. Ich habe einen Sender gefunden und den Ton so leise eingestellt, dass man draußen nichts hören kann. Ich muss das Radio ganz dicht an mein Ohr pressen, um überhaupt etwas zu verstehen. Dann sehe ich wahrscheinlich wirklich wie ein Geistesgestörter aus. Wenn ich zusammengekauert auf diesem Stuhl hocke, konzentriert auf die Worte lausche und langsam hin- und herschaukele, damit mir nicht kalt wird.
Im Radio reden sie immer noch ständig über das Erdbeben. Es hört sich so an, als wäre draußen das totale Chaos. Am Anfang habe ich es kaum ausgehalten, wenn der Sprecher auch nur »Wellington« sagte. Die Gedanken an all die Leute dort und daran, was ihnen zugestoßen sein könnte und wie sehr ich sie vermisste, haben mir fast das Herz zerrissen. Aber noch kann ich nicht zu ihnen. Zuerst muss ich was erledigen.
Sie sagen, dass die Aufräumarbeiten eine Katastrophe waren und die Leute nach Schuldigen suchen. Sie sagen, das Land hätte besser auf so etwas vorbereitet sein müssen. Aber das ist Blödsinn. Es gibt einfach Dinge im Leben, auf die man niemals richtig vorbereitet sein kann, weil der Preis zu hoch wäre. Zum Beispiel auf den Tod.
Der Polizei wird vorgeworfen, dass es zu lange gedauert hat, bis die Ordnung wiederhergestellt war. Ein Beamter erklärte, mit den Plünderungen habe keiner gerechnet. So wie es aussieht, sind ein paar Leute total durchgedreht und haben sich einfach alles gekrallt, was sie kriegen konnten. Und als andere sie aufhalten wollten, wurde eine richtige Straßenschlacht daraus. Dabei befanden sich die ganze Zeit immer noch Menschen in den eingestürzten Gebäuden.
Es ging auch um die Gasexplosionen. Von denen wusste ich schon, weil wir sie von den Bergen aus gesehen hatten. Riesige lautlose Blitze der Zerstörung. Dann versuchte eine Professorin zu erklären, warum bei dem Erdbeben so viele Leute durchgedreht sind. Sie hat alles Mögliche gesagt. Aber vor allem, dass es manchmal eben vorkommen kann, dass die Leute ein bisschen verrückt spielen. Das wusste ich auch schon.
Angeblich kehrt langsam wieder die Normalität ein. Oder zumindest so viel Normalität, wie es in einer Stadt geben kann, in der so viele Menschen umgekommen sind, dass sie nicht genug Särge hatten. Die Art von Normalität, bei der die Menschen zwischen den Trümmern versuchen, zu ihrem alten Leben zurückzukehren, und so tun, als wären die Dinge, die sie getan haben, als alle ein bisschen durchgedreht sind, niemals geschehen. Ärzte arbeiten wieder als Ärzte und entfernen sorgfältig die Teile ihrer Vergangenheit, die ihnen schaden könnten. Sie nähen die Erinnerungen zu und hoffen, dass die Wunde heilt. Aber meinem Arzt wird das nicht gelingen. Diese Wunde wird nicht verheilen. Ich kann ihn sehen, besser als er denkt, und ich werde es ihm heimzahlen.
Dann habe ich das Radio abgeschaltet und mich auf den Hass in mir konzentriert. Er ist das Einzige, was mich von meinen Gedanken an zu Hause ablenken kann. Von Mum, wie ich sie zum letzten Mal gesehen habe, als sie mich auf dem Weg ins Büro zur Schule gebracht hat und mir sagte, ich solle gut auf mich aufpassen. Von Duncan, dem einfach nichts passiert ist, weil kleinen Brüdern nichts passieren darf. Von so vielen Leuten, deren Gesichter mich von meinem Entschluss abbringen könnten. Eigentlich sollte ich das hier nicht einmal
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