Wie Du Mir
unvernünftig dran, wenn ich glaube, dass sich Dinge ändern können?“
Marie schnaubte resigniert, vergewisserte sich, dass Ben wirklich schlief, und sah dann aus dem Fenster hinaus auf die Straße.
„Was sollte sich ändern?“ Sie klang abwesend, als führte sie ein Selbstgespräch. „Wir können nicht rückgängig machen, was passiert ist.“
„Aber wir können uns ändern“, beharrte Dally.
Sie lachte wieder, diesmal die übliche Mischung aus Ironie und Bitterkeit.
„Na klar, das wollen wir alle. Was genau willst du ändern? Nach Indien gehen und dich selbst finden? Makrameekurse besuchen? Was willst du tun?“
Er umklammerte das Lenkrad fester. Keine Ahnung, was er tun wollte. Vor allem wollte er keine Bedrohung mehr sein. Für niemanden, schon gar nicht für seine Familie.
„Ich will weg von den Provos“, hörte er sich selbst sagen.
Marie atmete scharf durch die Nase ein, blieb aber stumm. Keine Seufzer, keine ironische Bemerkung, keine Zustimmung. Keine Reaktion. Sie schien den Atem anzuhalten, als erwarte sie noch weitere Enthüllungen.
Dally wusste nichts mehr zu sagen. Es war, als hätte sich seine Idee erst manifestiert, als er diesen Satz ausgesprochen hatte. Das Undenkbare. Unmöglich, es jetzt wieder einzufangen.
Erst fünf Minuten vor Caitlins Haus wandte sich Marie ihm wieder zu. Sogar durch die armaturenbeleuchtete Düsternis des Autos konnte er erkennen, wie sehr die vergangenen Tage an ihr gezehrt hatten.
„Ist das dein Ernst?“ Sie klang erschöpft und überdrüssig.
Trotz der ganzen Zeit, die er gehabt hatte, sich eine intelligente Antwort zu überlegen, zögerte er nun.
„Ich glaube … ja.“
„Verstehst du, was du da sagst? Dafür könnten sie dich um-“, sie hielt inne, schluckte, suchte nach einer weniger düsteren Prognose. „Die Provos lassen dich doch nicht einfach so gehen. Du müsstest über Nacht abhauen und kannst dich nie wieder hier blicken lassen.“
„Ist mir egal, wenn du und Ben mit dabei seid.“
„Na toll. Sitzen wir also alle im Exil, ist das deine Lösung?“ Ihre Stimme war dünn und schwach geworden, erstickt unter der Angst vor Isolation, der Endgültigkeit des Abschieds.
„Ich dachte, du willst, dass ich –“
„Du kannst nicht so tun, als könntest du uns wie ’n Gepäckstück einfach mitnehmen, nur weil du plötzlich glaubst, ein besserer Mensch werden zu wollen. Denk doch endlich mal was zu Ende.“
„Wie wär’s, wenn du mich nicht ständig wie ’nen Idioten behandeln würdest? Zuerst willste nicht, dass ich mitmache, jetzt will ich aufhören, und wieder haste was dagegen. Was soll ich denn machen, Marie, damit du zufrieden bist – was?“
Hinter ihnen murmelte Ben etwas im Schlaf, und Marie zuckte zusammen. Das anschließende Schweigen hielt sich bis zum Ende der Fahrt.
In Caitlins Haus waren bereits alle Lichter erloschen, als sie ankamen.
Der Regen trommelte unermüdlich auf das Auto. Dally schnallte sich ab und stieg aus, entledigte sich seines Jacketts, öffnete die Tür zum Rücksitz, wo Ben noch in derselben Stellung kauerte, in die er sich zu Beginn der Fahrt eingerollt hatte. Er hatte noch immer den Schlaf eines Kleinkindes.
„Ab ins Bett, Freundchen.“
Sein Sohn legte ihm schlaftrunken die Arme um den Hals, dann hob Dally ihn hoch und aus dem Wagen. Ben war schwerer geworden. Ihn die Treppe hinaufzutragen bereitete Dally zum ersten Mal wirklich Mühe. Es dauerte nicht mehr lange, und er würde in demselben Alter sein, in dem Dally seinen ersten Stein auf ein Armeefahrzeug geworfen hatte, um den Sullivan-Brüdern zu beweisen, dass er sich eben doch traute.
Nichts von ihm schien in Ben zu stecken. Er hatte ihn heute Abend beobachtet. Anstatt sich am Kampf um den Gameboy zu beteiligen, hatte er eingehend jede Seite seines Geburtstagsgeschenks, ein Buch über unbekannte Flugobjekte, studiert, als wollte er sie auswendig lernen.
Genau wie Seán, war ihm durch den Kopf geschossen. Der hatte auch ständig seine Nase in Bücher gesteckt.
Die 20 Meter vom Parkplatz bis zum Haus reichten, um Dally zu durchnässen. Marie wies ihm stumm den Weg über die Treppe nach oben zum Kinderzimmer, in dem auch Ben untergebracht war. Im Raum roch es nach von Polyesterdecken überhitzten Kinderkörpern. Ben war schon wieder eingeschlafen, also streifte ihm Dally nur die Turnschuhe von den Füßen. Den Rest ließ er an ihm, deckte ihn zu, beugte sich über ihn für einen Gutenachtkuss. Doch Ben sah so ernst und erwachsen
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