Wie Du Mir
auf!“
„Na komm, sag’s mir. Was geht in so ’nem Verrückten vor?“
„Du hast keine Ahnung, Seán.“ Dallys Hände zitterten so stark, dass er sie nur noch kontrollieren konnte, indem er sie fest unter seinen Armen verschränkte. „Du warst keine fünf Jahre im Gefängnis. Du warst nicht wochenlang in Einzelhaft. Dir haben sie nicht ins Essen gespuckt. Ohne die Provos hätte ich nicht überlebt da drin.“
„Keiner hat dich drum gebeten, reinzugehen! Weißt du eigentlich, was du uns damit angetan hast? Marie, Ma, Dad … uns allen?“
„Du weißt nicht, was das aus dir macht.“
„Einen Mörder vielleicht, wer weiß?“
Seáns Sarkasmus machte Dally doch noch wütend.
„Was bildest du dir eigentlich ein? Tauchst hier auf und plärrst Dinge durch die Gegend, die dir die Bullen ins Ohr gesetzt haben?“
„Ich hab gedacht, ich kenne dich.“
„Sorry, aber als du in Dublin zu ’nem verdammten Yuppie geworden bist, ist dir eben einiges entgangen. Kein einziges Mal haste mich besucht, auch nicht, als ich mich umbringen wollte nach Micks Tod. Dir ist doch alles egal, außer dir selbst. Was willste also?“
„Ich will die Wahrheit wissen.“
„Und dann?“
Zum ersten Mal schien Seán unschlüssig, was er antworten sollte.
„Für das, was ich getan hab, gibt’s keine Entschuldigung. Dafür muss ich mich verantworten, aber sicher nicht vor ’nem Möchtegern, der alle paar Monate mal hier aufkreuzt und meint, über allem und jedem zu stehen.“
Seáns Gesicht wirkte unheimlich in seiner Farblosigkeit. Dally war erleichtert. Endlich gingen auch seinem Bruder mal die Worte aus.
Dass Seáns ausfahrende Faust für ihn gedacht war, wurde ihm erst klar, als er sie an seiner Wange, dicht unter dem linken Ohr, spürte. Nicht sonderlich kraftvoll, doch überraschend. Dally stolperte und taumelte gegen den Sockel von Victorias Thron. Kopf auf Granit.
Plötzlich befand er sich auf allen vieren. Irgendwo klimperte die Melodie des Entertainers , oder bildete er sich das nur ein? Als er aufsah, stand da Seán, seine Augen weit aufgerissen.
„Dally, tut mir leid.“
Er lachte. Seán und sein weiches Herz.
„Alles okay.“ Er rappelte sich auf und wollte etwas sagen, als ihn die Übelkeit endgültig überrollte. Queen Victoria und Seán tanzten im Walzertakt um ihn herum, dann übergab er sich aufs Pflaster.
„Das wollte ich nicht“, hörte er Seán über sich beteuern, dann würgte er noch einmal. Als er die Augen öffnete, um sich von seinem Tee zu verabschieden, starrte er in eine Blutlache.
„Scheiße, Dally, was ist mit dir los?“
Vor seinen Augen verschwamm die Welt zu einem Cocktail in Steingrau und Karminrot.
„Na Seánie, jetzt sind wir auch Blutsbrüder, was sagste dazu?“ Er kicherte und würgte erneut. Rot, rot, rot.
Vielleicht sterbe ich ja, dachte er, als er irgendwo in der Ferne Seán nach einem Arzt rufen hörte. Der Gedanke gefiel ihm, und als ihm der Asphalt entgegenraste, ließ er sich fallen und fallen, in die Schwärze, die da unten auf ihn wartete.
Oktober 1993
He, who runs away, lives to fight another day.
Irisches Sprichwort
Vergissmeinnicht
Will liebte es, in exotische Länder zu reisen. Zumindest theoretisch. Seine Wohnzimmerwand war voll von Bildbänden mit Namen von Orten, die so fern klangen, als könnten sie nirgendwo sonst als im Fernsehen existieren. Fast jeden Tag schlug er eines auf, schnupperte am Papier und trieb gedanklich im Ägäischen Meer, erklomm die Spitze des Zuckerhuts oder warf einen Blick ins Tal der Könige.
Im wahren Leben verbrachte er seine Tage angelnd am Ufer des Strangford Lough oder beobachtete das Meer von einem Parkplatz aus, während der Wind seinen Golf hin und her schaukelte.
Nur Jenny hatte ihn immer wieder zu kurzen Reisen jenseits des Meeres hinreißen können, meistens durch Liebesentzug. Seit der Anblick ihrer vorgeschobenen Unterlippe fehlte, hatte Will nicht einmal mehr an Ausflüge gedacht, allein deshalb, weil etwas in ihm ständig glaubte, ihre Rückkehr nach Hause zu verpassen. Seine zunehmende Reiselust war ihm aufgefallen, wie man die winterliche Abwesenheit von Vogelgezwitscher erst im Frühling bemerkt.
Ausgerechnet, als er die Tonbänder von Seán Patrick Fergusons Verhör für seinen Bericht transkribierte. Eine Arbeit für Stumpfsinnige. Aber zumindest war er sich darüber klar geworden, wann und wohin er fahren würde. Sein erster Fortschritt zurück ins normale Leben. Hatte er gedacht.
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