Wie Du Mir
saß er direkt am Eingang zum Waldpark von Glenariff auf der Terrasse der Manor Lodge, leerte seinen zweiten gepfefferten Tomatensaft und verfluchte seine idiotische Idee. Ja, er blieb verschont von Flashbacks. Ja, er verzichtete auf seine Routine-Checks unter dem Golf, wenn er zu seinen ambitionslosen Ausflügen in die Umgebung aufbrach. Aber er hatte die fatale Wirkung von Freizeit unterschätzt. Die Leere, mit der sie ihn erfüllte. Er fühlte sich nicht traurig, weil Jenny nicht mehr da war, um die Aussicht über den Mull of Kintyre mit ihm zu teilen oder sich bei einer Angelpartie zu langweilen. Weder Verzweiflung noch Selbstmordgedanken. Er fühlte nichts. Und das gefiel ihm weniger, als er sich erhofft hatte.
Er sah sich nach der Kellnerin um, einem schüchternen Teenager mit Zahnspange, schwarzem Rock und altmodischer Schürze, bezahlte und brach zum Wasserfall auf – ein Spaziergang, den er sich schon heute Morgen vorgenommen hatte. Vor der Terrasse und vor dem Tomatensaft.
Heute war ein schlechter Tag. Er hatte es schon beim Aufstehen gemerkt. Jenny war tot, und es war seine Schuld. Sie hatte es kommen sehen, immer dann, wenn sie wütend war auf ihn und seine Lethargie.
Ihre Beziehung war eine stürmische gewesen, laut Jenny vor allem deshalb, weil Will seine Ruhe haben wollte.
Aber in Wahrheit hatte sie immer einen Gegenpol zu ihrer Ruhelosigkeit und Emotionalität gesucht. Und einen Mann in Uniform, Organ der Macht. Das hatte ihr doch an ihm gefallen. Vielleicht am besten von allen seinen Eigenschaften. Deshalb war sie auch immer wieder zurückgekommen, wenn sie ihren Zorn über ihn auf keinem anderen Weg mehr hatte ausdrücken können, als indem sie aus dem Haus lief. Minuten, manchmal Stunden waren vergangen, ehe sie wiederkam. Er hatte kein einziges Mal gefragt, wo sie gewesen war. Schließlich war sie immer wieder zurückgekehrt. Nur einmal, da war sie die ganze Nacht weggeblieben. Er hatte sie angeschrien, nur dieses eine Mal, und erst das schien sie zufrieden zu machen, trotz ihres hysterischen Heulkrampfes, denn damals hatten sie den Sex ihres Lebens miteinander gehabt.
Vor sich auf dem Weg sah Will einen dottergelben Fleck liegen. Ein Fleecepullover, die Ärmel abgewinkelt, als wäre er in vollem Lauf hingefallen.
Will hob ihn auf, betrachtete die lehmbraunen Spuren auf dem Dottergelb und schnupperte daran. Etwas Moder, etwas Parfum, das entfernt an Gurken erinnerte. Vielleicht gehörte er einer der Frauen, die vor gut zwei Stunden schnatternd auf dem Parkplatz vor der Manor Lodge einem Kleinbus entstiegen waren und mit Rucksäcken bewaffnet in den Park aufgebrochen waren. Will hatte das von seinem Platz auf der Bank aus beobachtet. Sie hatten schrill gekichert, als wären sie dreimal jünger als sie aussahen, und außer einem kurzen Lächeln hatte Will versucht, ihre Aufmerksamkeit nicht weiter auf sich zu lenken. Er überlegte, den Pullover irgendwo abzulegen, entschied sich dann aber anders, hängte ihn über seinen Arm und spazierte weiter. Immer lauter wurde das Donnern des Wasserfalls.
Will war inzwischen froh, dass er sich dazu aufgerafft hatte herzukommen.
Nach dem unerwartet spektakulär verlaufenen Ferguson-Verhör brauchte er harmlose Erlebnisse. Der Auftritt mit dem Nasenbluten hatte Will aufgewühlt. Die einzige Reaktion, die Ferguson nicht aus dem „Erfolgreich zum Abschluss“-Lehrbuch zu haben schien. Will war froh gewesen, als Kenny Lewis mit ihm ins Bad verschwunden war. Kurz nach Mittag waren sie übereingekommen, dass Ferguson von keinem weiteren Nutzen war: Sein Profil zeigte keine Verdachtsmomente. Bei seinem Eingreifen in die Unruhen am Rande der Callahan-Beerdigung gab es keinerlei Beweis für ein unrechtmäßiges Vorgehen seinerseits, die Identität des Anstifters der Unruhen hatte er bestätigt. Was den Rest anging, gab er hartnäckig Unwissenheit vor.
Außer zu Anlässen wie dem unseligen Begräbnis habe er keinerlei Kontakt mit Familie und Freunden in Belfast. Außerdem hatte er angekündigt, für sein ruiniertes Hemd Schadenersatz zu fordern, denn das habe immerhin 70 Pfund gekostet.
Ferguson war als „anmaßend“ in der Akte vermerkt, ansonsten wurde ihm Ungefährlichkeit attestiert. Noch am selben Nachmittag hatten sie ihn nach Hause geschickt – gemeinsam mit der Erkenntnis, einen Mörder als Bruder zu haben.
Die Felsvorsprünge mit ihren vor Feuchtigkeit tropfenden Farnen und Moosen wichen zurück und der Wasserfall kam in Sicht. Auf der Brücke
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