Wie ein Blütenblatt im Sturm
dem sie das Wappen mit der dreiköpfigen Schlange der d’Auguste-Familie entdeckt hatten, ansonsten war sie aber mit sich und ihren Sorgen allein. Es war dumm, daß sie nicht schon frü-
her mit Madame Daudet über das Wappen gesprochen hatten, aber zum damaligen Zeitpunkt war es schließ-
lich nur eines von vielen Möglichkeiten gewesen.
Endlich erschien Madame Daudet, um ihre Besucherin zu begrüßen. Die alte Dame schien kaum mehr als schwarze Spitze und zerbrechliche Knochen, doch in dem einst sicher sehr schönen Gesicht lagen noch Entschlossenheit und Kraft. »Was kann ich denn heute für Sie tun, Kind? Ist Ihre hübsche blonde Freundin auch hier?«
»Nein, Madame. Ich bin hier, weil ich mir Sorgen um sie mache«, antwortete Hélène. »Gräfin Janos und ein paar Freunde sind verschwunden, und meine einzige Spur ist das Wappen der d’Auguste. Können Sie mir etwas über die Familie sagen?«
Die alte Dame schürzte die Lippen. »Da gibt es wenig zu sagen, denn die direkte Linie ist ausgestorben.
Es hat in den letzten fünfzig Jahren, schätze ich, keinen d’Auguste mehr gegeben.«
Hélènes Enttäuschung war so bitter, daß sie sie schmecken konnte. Sich an den Strohhalm klammernd, fragte sie: »Was ist denn vor fünfzig Jahren geschehen?«
»Hm, mal sehen …«, murmelte Madame Daudet, während sie in ihrer Erinnerung nachforschte. »Der letzte Sproß der d’Auguste war ein Mädchen namens Pauline. Sie heiratete den Comte de Varenne, und ihr alter Name erlosch. Pauline war die Mutter des jetzigen Comte. Ein seltsames Mädchen. Die d’Auguste hatten einen großen Anteil schlechten Blutes.«
»Varenne!« schrie Hélène. Sie dankte Madame Daudet hastig und stürzte aus der Wohnung auf die Straße hinaus. Sie wußte immer noch nicht, was sie tun sollte, aber wenigstens hatte sie nun die Gewißheit, wer Le Serpent war.
Michel Roussaye zog die Stirn in Falten, als er die Notizen überflog, die er nach Besuchen in einem Dutzend Clubs und Cafés gesammelt hatte, in denen Bonapartisten sich zum Spielen und Trinken trafen und in Erinnerungen an die glorreichen Tage des alten Imperiums schwelgten. Die Erwähnung Henri Lemerciers hatte leere Blicke und Abscheu erzeugt. Gelegentlich starrte man ihn nur an und stritt ab, einen Mann dieses Namens je gekannt zu haben.
Der fehlende Informationsfluß war nicht besonders erstaunlich, denn es war in der jetzigen Zeit in jeder Hinsicht klug, Diskretion zu bewahren, aber Roussaye war etwas anderes aufgefallen, das in der Tat beunruhigend war. In jedem Café waren Gerüchte von einer an-stehenden Veränderung zu hören gewesen. Einige Male hatte er sogar von Le Serpent flüstern hören, einem Mann, der Frankreich wieder zu der Größe zurückführen würde, die dem Land gebührte. Zwei oder drei Männer, die sich an Roussayes Spitznamen in der Armee erinnerten, hatten sogar indirekt nachgefragt, ob er vielleicht der Besagte sei.
Roussaye hatte heftig bestritten, in etwas Derartiges verwickelt zu sein, aber die Andeutungen waren schlimm genug. Obwohl die meisten Offiziere wie er mü-
de und gewillt waren, dem Frieden endlich eine Chance zu geben, gab es immer noch ein paar Hitzköpfe, die in den Tagen großartiger Siege am glücklichsten gewesen waren. Solche Männer sahen nicht, welchen hohen Preis ihr Vaterland für die flüchtige Süße des Ruhms hatte bezahlen müssen.
Noch alarmierender war allerdings die Nachricht, die sein Diener erhielt, als er versuchte, dem Duke of Candover eine Botschaft zu bringen: Der Duke war am vorangegangenen Nachmittag weggegangen und bisher nicht heimgekehrt. Roussaye fluchte leise vor sich hin.
Zuerst Robert Anderson, dann Gräfin Janos und nun noch Candover; die Katastrophe würde bald hereinbre-chen.
Ungeduldig stand er auf und beschloß, zu Silves’ zu gehen, ein weiteres beliebtes Bonapartisten-Café. Es wurde immer wichtiger, herauszufinden, für wen Lemercier gearbeitet hatte.
Maggie saß in einem schäbigen Ohrensessel und versuchte, einen französischen Roman zu lesen, während Rex sich auf dem Fußboden neben ihr räkelte. Im Augenblick lag er auf dem Rücken und streckte seine pelzi-gen Pfoten in die Luft. Wenn er nicht geschnurrt hätte, hätte man ihn für tot halten können. Es war schade, daß sie sich selbst nicht so herrlich entspannen konnte.
In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sie über ihre Lage nachgedacht und alle möglichen Pläne ge-schmiedet, um Varenne zu entkommen, und nun gab es nichts
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