Wie ein boser Traum
Schlussfolgerung war nicht nur Emily gekommen. Die Schlagzeilen der Huntsville Times hatten dasselbe verkündet.
Und sie hatte, wie sowohl die Huntsville Times als auch der Pine Bluff Sentinel geschrieben hatten, Austin heldenhaft das Leben gerettet …
Emily warf die Ausgabe der Times beiseite und legte sich wieder auf die kühlen Bettlaken. Schlichtes menschliches Mitgefühl. Sie hatte instinktiv gehandelt, nichts weiter. Sie hätte dasselbe für jedes andere Lebewesen getan, sogar für einen Hund oder eine Katze. Wie oft hatte sie sich das schon gesagt!
Aber es änderte nichts an der Macht, mit der ihre innere Unsicherheit wuchs.
Sie hoffte, die Untersuchungen der Polizei würden nicht ergeben, dass Troy etwas mit dem Brand zu tun hatte. Er hatte ihr doch angekündigt, dass er sich höchstpersönlich um Austin kümmern wollte. Um Troys Familie willen hoffte sie, dass er es nicht getan hatte.
War schon der Umgang mit ihren eigenen unchristlichen Gedanken an Vergeltung nach Heathers Tod ein schwieriger Aspekt ihres Lebens gewesen, so war die Unsicherheit, die Emily jetzt empfand, noch viel schlimmer.
Was, falls sie Unrecht gehabt hatte?
Eine beängstigende Vorstellung.
Sie war in jener Nacht da gewesen. Er war da. Niemand sonst. Kein anderer Verdächtiger, nur er.
So wenig sie es auch wollte – sie schloss die Augen und ließ die Erinnerungen in sich aufsteigen. Megan hatte sich sehr beeilt, Emily nach Hause zu bringen, unmittelbar nachdem sie den neuen Mädchen bei ihrer letzten Aufgabe geholfen hatten. Die hatte darin bestanden, Schulleiter Calls Haus mitten im Juli von außen weihnachtlich zu dekorieren – mit Lichtern und beleuchteten Figuren, zum Beispiel einem Schneemann. In ihrer Eile
hatte Megan beim Rückwärtsfahren Mr. Calls Briefkasten gerammt. Sekunden später war der Schulleiter ihnen auf den Fersen gewesen.
Da sie wusste, welchen Ärger Emily bekommen würde, wenn ihre Eltern von der Sache erführen, hatte Megan Emily an deren Haus aussteigen lassen und war davongebraust. Der Schulleiter war Megan bis zum anderen Ende des Häuserblocks gefolgt. So spielte sich die unvermeidliche Konfrontation nicht in der Nähe von Emilys Zuhause ab. Emily hatte nur eines im Kopf. Sie wollte das Geheimnis hören, das Heather ihr anvertrauen wollte. Erst als sie an ihrem Schlafzimmerfenster angelangt war, merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie kletterte hinein … und geradewegs in den furchtbarsten Albtraum ihres Lebens.
Sie bekam lautes Herzklopfen, als sie sich an den Moment erinnerte, als sie Clint im Schlafzimmer sah.
Sie unterdrückte die quälenden Bilder, öffnete die Augen und blickte auf die öden Wände des Zimmers. Was sie damals ignoriert hatte: Warum war er nicht geflohen, obwohl er doch die Möglichkeit dazu gehabt hätte? Das war eine ungelöste Frage, die mit alldem, was sie wusste oder woran sie sich erinnerte, nicht zu beantworten war. Sie hatte sich gesagt, dass das Grauenhafte gerade eben erst passiert wäre. Dass ihr unerwartetes Auftauchen ihn verwirrt hätte, besonders wenn er erst kurz zuvor bemerkt haben sollte, dass er das falsche Mädchen getötet hatte. Aber wenn sie die Sache jetzt betrachtete, musste sie sich doch fragen, ob es Clint überhaupt in den Sinn gekommen war, wegzulaufen.
Selbst nachdem sie es geschafft hatte, ihn von Heather fortzustoßen, war er nicht geflüchtet.
Warum nicht?
Und wenn Drogen im Spiel gewesen wären, wie einige spekuliert hatten, obwohl diese Vermutung durch den Bluttest nicht bestätigt worden war, warum hatte er nicht zu Ende gebracht, weswegen er gekommen war? Warum hatte er Emily nicht getötet? Das Messer hatte unmittelbar neben dem Bett auf dem Boden gelegen. Ihre Eltern waren noch nicht zu Hause gewesen, und es waren einige Minuten vergangen, ehe der Schulleiter ihre Schreie gehört und die Polizei alarmiert hatte.
Aber Austin hatte sie nicht getötet. Und er war nicht geflohen? Warum?
Hatte er sich seine Geschichte schon damals ausgedacht? Hatte er versucht, da er nun schon einmal erwischt worden war, dem Grund für seine Anwesenheit in dem Zimmer mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen? Das jedenfalls hatte sie sich in den Tagen und Wochen nach jener Nacht eingeredet. Während des gesamten Prozesses hatte sie daran festgehalten. Alle hielten Clint für schuldig. Es gab keine anderen Verdächtigen. Auf dem Messer waren keine Fingerabdrücke gewesen – ein Messer, das man in jedem größeren Supermarkt kaufen konnte. Er hatte
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