Wie ein Flügelschlag
Probenraum.
Er öffnete die Tür. »Die Tasche dahinten, die auf der Fensterbank.
Holst du sie schnell?«
Ich schlüpfte an ihm vorbei in den Raum und sah mich kurz
um. An der Wand lehnten einige Kulissen aus vorangegangenen
Theateraufführungen, in der Ecke stand ein Kleiderständer mit
ein paar Kostümen. Dann sah ich die kleine schwarze Sporttasche
auf der Fensterbank. Ich holte sie und lief zurück zur Tür.
»Die hier?«
Bernges nickte. »Ja, Melanie hat sie neulich stehen lassen. Ich
wollte sie ihr schon längst mitbringen, aber ich hab es jedes Mal
vergessen. Wie ich mich kenne, hätte sie bestimmt noch nach
den Sommerferien da gestanden.«
»Schon in Ordnung. Mach ich doch gerne. Aber jetzt muss
ich los.«
Ich kam gerade noch rechtzeitig zum Training. Drexler erwähnte
weder das gestrige Freundschaftsturnier noch die Prügelei vom
Vormittag. Auch die Sichtung war heute kein Thema.
»Ab ins Wasser. Vierhundert Meter einschwimmen.«
Seine Befehle beschränkten sich auf das Notwendigste. Alle
spulten das Programm runter, ohne viel miteinander zu reden.
Vor allem Jonas und Tom waren heute auffallend zurückhaltend.
Ich versuchte, nicht mehr an gestern zu denken. Zwei- oder
dreimal hatte ich Blickkontakt zu Drexler, aber er ignorierte
mich einfach.
Nach dem Einschwimmen trainierten wir alle vier Lagen.
Vierhundert Meter pro Lage waren dabei das übliche Pensum,
heute erweiterte Drexler es um etliche Bahnen. Während des
Kraul- und Brustschwimmens gelang es mir endlich, meinen
Trainer vollkommen auszublenden.
»Fünfhundert Meter Rücken jetzt. Zweihundertfünfzig
Meter. Dreißig Sekunden Pause. Hundertfünfzig. Pause. Hundert.
Und ein bisschen Tempo bitte.«
Ich griff nach der Haltestange unter dem Startblock. Nora
neben mir sah jetzt schon erledigt aus. Ich zog mich an den
Startblock und spannte meinen Körper an.
»Heute will ich keine verpatzte Wende sehen. Ist das klar?«
Das ging an mich. Ich hatte den Hinweis verstanden. Drexler
tat alles, um mir meine Situation ins Gedächtnis zu rufen. Meine
Wut trug mich durch das Wasser. Aus dem Augenwinkel sah ich,
wie Drexler neben dem Becken herlief. Am Rand schwamm
Tom. Drexler redete auf ihn ein, korrigierte ihn, fuchtelte mit
den Armen. Auf mich achtete er nicht mehr. Ich hatte meine
Lektion bereits erhalten.
Als wir endlich alle vier Lagen durchhatten, verteilte Drexler
die Bretter und ließ uns auch noch für jede Lage den Beinschlag
trainieren. Das Stöhnen im Becken wurde lauter, die Stimmung
sank auf den Nullpunkt. Normalerweise liebte ich es, meinen
Körper bis zum Anschlag zu fordern. Aber heute fühlte ich mich,
als hätte ich Blei in den Beinen. Ein Blick zurück zeigte mir, dass
es den anderen nicht besser ging.
»Okay, Leute. Noch zweihundert Meter ausschwimmen.
Und das nächste Mal hebt ihr euch eure Energie fürs Becken auf,
statt euch auf dem Schulhof zu prügeln.«
Tom neben mir zuckte zusammen. Bea heulte fast vor Erschöpfung.
Als wir endlich unter den Duschen standen, waren meine Nerven
angespannt. Ich wartete, bis Nora und die anderen außer
Hörweite waren, bevor ich mich an Melanie wandte.
»Mel, ich muss mit dir reden. Es ist echt wichtig.«
»Das hast du heute schon mal gesagt.« Melanie wickelte sich
in ihr Handtuch. »Was ist los?«
Ich fing ebenfalls an, mich abzutrocknen. Dann griff ich nach
meiner Jeans. Unauffällig versicherte ich mich, dass wir auch
wirklich allein in der Kabine waren.
»Jetzt mach schon. Ich hab doch gesagt, ich hab nicht viel
Zeit.« Melanie schlüpfte in ihr Sweatshirt.
Ich holte tief Luft. Da fiel mein Blick auf die Tasche, die Bernges
mir mitgegeben hatte. Ich war vor dem Training so spät dran
gewesen, dass ich sie erst mal mit meinen Sachen in den Spind
gestellt hatte. Ich nahm sie und zog sie aus dem schmalen Blechschrank.
»Bevor ich es vergesse: Die soll ich dir von Bernges
geben.« Ich hielt Melanie die Tasche hin.
Fragend hob sie die Augenbrauen, während sie danach griff.
»Von Bernges?«
Sie öffnete den Reißverschluss und schaute kurz ins Innere
der Tasche. Dann wurde sie blass.
»Wo hast du das her?«, flüsterte sie.
»Sagte ich doch. Bernges hat sie mir für dich mitgegeben. Sie
stand im Probenraum. Du hast sie da wohl mal vergessen.«
Melanie biss sich auf die Lippen, stieg in ihre Winterschuhe
und griff nach ihrem Anorak.
»He, alles in Ordnung?«
Sie antwortete nicht, zog nur ihren Reißverschluss zu und
setzte ihren Rucksack auf. Dann griff sie nach der
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