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Wie ein Flügelschlag

Wie ein Flügelschlag

Titel: Wie ein Flügelschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Wilke
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schon von all dem? Von Anfang an warst du dagegen,
dass ich auf diese Schule gehe. Du hast es nie gewollt und
hast immer nur Angst davor gehabt, ich könnte dich alleinlassen.
Ständig musste ich für dich da sein, immer hast du mir erzählt,
du hättest Kopfschmerzen, dir ginge es nicht gut, hättest
Migräne oder weiß der Geier was!«
    Meine Mutter will mich umarmen, fasst hilflos nach meinen
Schultern, aber ich weiche ihr aus.
    »Bitte, beruhige dich doch. Es ist nicht so, wie du denkst. Ich
weiß ja, was dir dieses Stipendium bedeutet hat, es ist nur …«
    »Halt endlich die Klappe!« Ich drehe mich um und schreie
es ihr mitten ins Gesicht. Sie sieht aus, als hätte ich sie geschlagen,
aber ich kann nicht anders. Jedes Wort von ihr macht alles
nur noch schlimmer. Ich will das nicht mehr hören. Ich will gar
nichts mehr hören. Ich kriege keine Luft. Kann nicht atmen. Ich
muss raus hier. Endlich. Raus.

Ich weiß nicht mehr weiter.
    Meine Mutter ist gestern ohne ein Wort aus dem Bad gegangen
und hat sich in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen. Ich
hätte ihr hinterhergehen und mich entschuldigen sollen. Ich
hätte ihr sagen sollen, dass es mir leidtut und dass das alles nicht
so gemeint war. Aber ich hab's nicht gemacht.
Sie meinen es nicht
so
. Doch, ich meinte es so. Genau so und nicht anders.
    Jetzt sitze ich in meinem Zimmer und habe keine Idee, wie es
weitergehen soll. Ich sehne mich nach Mika. Würde ihn gerne
sehen. Seine Stimme hören. Ihn anfassen. Ich habe noch nie
einen Jungen angefasst. Also richtig angefasst. Aber wenn ich an
Mika denke, wie ich ihn berühren möchte, dann sehe ich sofort
Melanie vor mir. Und was noch viel schlimmer ist, ich höre die
Stimme meiner Mutter im Kopf.
Männer sind Schweine. Kennst
du einen, kennst du alle. Du und ich, wir gehören zusammen, meine
Kleine. Keiner kann uns trennen. Ich bin immer für dich da. Bitte geh
nicht weg. Lass mich nicht allein. Ich brauche dich.
    Ist Liebe so? Meine Mutter liebt mich, da bin ich mir sicher.
Nimmt Liebe einem die Luft zum Atmen? Manchmal denke
ich, dass Liebe ganz anders sein sollte. Hat Wieland seine Tochter
geliebt? Wollte er sie deshalb ganz nach oben bringen? Und
Jonas? Was war das zwischen Jonas und Mel? Und was ist zwischen
Mika und mir? Sicher keine Liebe. Ich muss aufhören, so
an ihn zu denken. Mit dieser Sehnsucht. Und ich muss überlegen,
wie es jetzt weitergehen kann.
    Ich hole meine Schwimmsachen aus dem Bad. In die Schule
komme ich nicht mehr rein. Bleibt nur die ÖBA. Öffentliche Badeanstalt.
Früher habe ich dort mit meinem Verein trainiert. Seit
ich im Internat bin, war ich nicht mehr da.
    »Willst du weg?« Meine Mutter steht vor mir. Ihre Augen
sind verquollen, und ich schaue an ihr vorbei, damit mir das
schlechte Gewissen keinen Stich versetzt.
    »Ja.«
    Sie nickt.
    Jetzt wäre der richtige Moment, um ihr zu sagen, dass es mir
leidtut. Aber ich bringe es nicht über die Lippen. Es geht nicht.
Deshalb schiebe ich mich einfach an ihr vorbei und gehe zur
Tür.
    »Kommst du wieder?« Sie klingt fast genauso zaghaft wie
Melanies Mutter. Und ich hasse mich dafür, dass ich es bin, die
sie so klein werden lässt.
    »Ich weiß noch nicht. Aber ich denke, schon«, füge ich
schnell hinzu, als ich ihren erschrockenen Gesichtsausdruck
sehe. Dann flüchte ich aus der Wohnung.
    Bis zur ÖBA sind es nur drei Stationen mit dem Bus. Ich hoffe,
dass man jetzt überhaupt reinkann, ich kenne die aktuellen Öffnungszeiten
nicht. Als ich endlich vor dem Hallenbad stehe, bin
ich mir plötzlich nicht mehr so sicher, ob ich das auch will. Weiß
nicht mehr, ob es eine gute Idee war hierherzukommen.
    Zumindest hat das Schwimmbad geöffnet. Die Leute in der
Schlange vor mir bewegen sich zentimeterweise vorwärts. Als
ich endlich an der Reihe bin, fühlt es sich komisch an, für etwas,
das ich seit über zehn Jahren fast täglich mache, Eintritt zu bezahlen.
Ich lege schnell ein paar abgezählte Münzen auf den Tresen
und beeile mich, durch das Drehkreuz zu gehen.
    Erst in der Umkleide fühle ich mich wieder zu Hause. Ich
schlüpfe in meinen Badeanzug, hänge mir die Schwimmbrille
um, verstaue meine Sachen in einem Spind und wickele den
Schlüssel in mein Handtuch. Als ich die Halle betrete, zucke ich
zurück. Der Lärm, der mir entgegenschlägt, haut mich förmlich
um. Es war wohl keine gute Idee, ausgerechnet an einem
Samstag in ein öffentliches Schwimmbad zu gehen. Mit einem
Blick scanne ich die Halle. Die Bahnen sind kürzer als in

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