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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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niemand hatte sie je nach dem Singen gefragt. Sie spürte eine Regung in ihrer Brust und stellte fest, dass es ihr Atem war. Sie hatte angefangen zu summen.
    In der Kirche am Sonntag predigte er von den Botschaften, die Gott seinem Volk schickte. »Seid stille und erkennet, dass er Gott ist!«, rief er. Und als die anderen laut »Amen!« und »Seid stille, seid stille!« antworteten, da fühlte sie erneut diesen Luftstoß in ihrer Brust.
    Am Ende dieser Woche gab sie geflüsterte Antworten auf die Fragen ihrer Eltern. »Ja, Ma’am, bitte.« »Nein danke, Daddy.« Ihre Mutter erklärte es zu einem Wunder und George Cox eindeutig zum Boten Gottes. Vor dem Ende des Sommers hatte George Sarahs Eltern gebeten, sie im nächsten Jahr heiraten zu dürfen, wenn er seine Predigerausbildung abgeschlossen und, so hoffte er, die Arbeit in seiner eigenen Kirche angetreten haben würde.
    »Ich weiß, dass sie jung ist«, sagte er zu ihrem Daddy. »Aber ich kann auf sie aufpassen. Ich kann sie von all dem wegbringen, was sie so traurig gemacht hat.«
    Nachdem er gegangen war, stampfte Tante Paulie, die an jenem Nachmittag von einem Kavalier aus Lexington zu dem Häuschen in der Black Pool Road gefahren worden war, im Zimmer auf und ab und tobte. »Sie ist noch ein Kind ! Ihr dürft nicht zulassen, dass er sie euch wegnimmt.«
    Paulies Schimpfen und Wüten hätte Sarah noch kurz vorher Angst eingejagt, doch jetzt reizte es sie fast zum Lachen. Er konnte sie wegbringen, irgendwo anders hinbringen. Das hatte er ihr gesagt. »Es ist das Beste, nach allem, was du erlebt hast.« Woher wusste er? Sie hatte Robert unzählige Male, bevor er starb, zu seinen Freunden sagen hören: »In Kentucky hält mich nichts. Ich geh nach Chicago, wenn ich bisschen Geld gespart hab.«
    Manchmal wurde er dafür bezahlt, dass er Gitarre spielte. Das Geld trug er in einem kleinen Beutel in seiner Hosentasche herum, damit ihre Mama nichts davon erfuhr.
    Und hatte Tante Paulie nicht die Black Pool Road und den gesamten Staat Kentucky hinter sich gelassen, sobald sie Claude traf, einen Mann, der sie so weit fortgebracht hatte, wie ein Mensch ja wohl nur kommen konnte, bis nach Paris in Frankreich? Damals war sie kaum älter als Sarah gewesen. Sarah hatte ihre Mutter oft darüber sprechen hören, am Ende schnalzte sie immer missbilligend mit der Zunge und schüttelte den Kopf.
    Sarah liebte ihre Mama und ihren Daddy. Sie liebte, wie sie sich um sie kümmerten, dass sie nie versucht hatten, sie zum Sprechen zu zwingen. Ihr warmes Häuschen, die Dachkammer, in der sie sich nachts in den Schlaf flüstern konnte. In der sie sich verstecken konnte.
    Aber jetzt zum Bach zu laufen, hieß, den Stumpf dieses Baumes zu sehen. Sie hatten ihn bald darauf gefällt, für ihre Eltern und für sie. Aber seine Wurzeln waren noch da, so tief wie eh und je. Nachts in ihren Träumen wuchs er nach, seine Zweige reichten bis zu ihrer Veranda.
    Robert war davongekommen, sagte sie sich nach diesen Träumen in den Lauten ihrer neuen Sprache. Der Sprache, die sie mit ihm teilte. Eines Tages würde er sie mitnehmen, an einen Ort, an dem die knorrigen Zweige sie nicht erreichen konnten. Das hatte Reverend Spies gesagt, als sie ihn beerdigten. »Er wartet dort auf uns.« Ihre Mama stieß ein Wehklagen aus, und Sarah wusste, dass sie das tat, weil das zu wissen nicht ausreichte. Für sie reichte es auch nicht aus, aber sie unterdrückte jedes Jammern, jeden Laut, sparte ihn auf und sagte sich, Himmel oder Hölle, es war egal; sie würde der Black Pool Road irgendwie entfliehen. Sie würde einen Weg finden, zu ihm zu gehen.

Pilger und Fremde
    1962
    A m Silvesterabend lief Mary Elizabeth in der Dämmerung auf der Big Hill Road nach Hause, nachdem sie die Kirche ihres Daddys geputzt hatte. Der Himmel war rot, die Luft feucht. Sie konnte den Zug riechen, der gerade abgefahren war, sein einsames Pfeifen verhallte, als er nach Westen bog, hinaus aus Richmond. Seit sie ein Kind war, träumte sie beim Klang eines Zuges davon zu reisen, woandershin zu fahren.
    Was sie für das Putzen der Kirche und der Häuser einiger Frauen in der Stadt – oben am Hügel, jenseits der Gleise – bekam, war ihr Taschengeld für die Zeit am College. Nicht, dass es dort viele Möglichkeiten gegeben hätte, es auszugeben. Frühstück in einem Diner mit Maze vielleicht. Maze hatte nie Geld. Mr Roth bestand darauf, die Noten für Mary Elizabeth zu kaufen, auch wenn sie ihm sagte, dass sie eigenes Geld besaß. Er hatte

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