Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
später wieder dort wohnen will.« Erwartungsvoll sah sie erst Sarah an, dann Mary Elizabeth, aber keine von beiden sagte etwas.
»Die anderen aus unserer Gruppe brauchen ungefähr eine Woche für eine Reihe.« Sie lachte etwas hohl, setzte sich und nippte an ihrem Tee. »Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich gekommen bin, Mary Elizabeth«, sagte sie dann. »Du siehst ein bisschen aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
Zu Mary Elizabeths Verwunderung antwortete ihre Mama für sie. »Es ist schön, dass Sie gekommen sind.« Ihre Stimme war so leise, dass Maze sich vorbeugen musste, um sie zu hören. »Mary Elizabeth, setz dich doch und trink eine Tasse Tee.«
Langsam ließ sie sich neben Maze, die ungeduldig ihre Hand ergriff, auf dem mit einem Häkelüberwurf bedeckten Sofa nieder. »Ich hab dir so viel zu erzählen, M. E.! Eigentlich wollte ich alles in einem Brief schreiben, aber dann dachte ich, es ist einfacher und besser, wenn ich mit dir persönlich spreche. Die Weihnachtsferien sind so lang, findest du nicht? Ich hätte nie gedacht, dass ich das College vermissen würde, du?«
»Wie bist du hergekommen, Maze?«, fragte Mary Elizabeth. Wie, fragte sie sich, hatte sie überhaupt ihr Haus gefunden? Sie war hin- und hergerissen zwischen Begeisterung – Maze war hier, bei ihr zu Hause in Richmond ! – und Panik. Was mochte ihre Mama schon gesagt oder getan haben, bevor sie zurückkam? Und welche absonderlichen Fragen hatte Maze ihr gestellt?
»Harris Whitman hat mich gefahren.« Maze rührte einen Löffel Zucker in ihren Tee.
»Wer?« Nun sah Mary Elizabeth ihre Mutter nervös an, die angefangen hatte, mit zwei Fingern an den Falten ihres Rocks zu nesteln.
Maze lachte und drehte sich erstaunlicherweise zu Sarah um, als wüsste sie Bescheid. Sarah blickte von ihren Rockfalten auf und lächelte die junge Frau an.
»Harris Whitman – weißt du nicht mehr? Aus Berea, du hast ihn nach deinem Konzert kennengelernt. Der Schreiner, der in der Stadt wohnt, der, über den die anderen im Wohnheim ständig geredet haben.«
Aber Mary Elizabeth konnte kaum etwas von alledem aufnehmen. Was machte jemand aus Berea, aus diesem anderen Leben, im winzigen Haus ihrer Eltern, in ihrem Wohnzimmer, mit einer der guten Porzellantassen ihrer Mama in der Hand?
»Ich dachte, wir könnten vielleicht zusammen Silvester feiern.« Maze sprach wieder. Mit Mary Elizabeth oder mit ihrer Mutter? Es war schwer zu sagen. Nun sah sie Mary Elizabeth an. »In Berea ist morgen ein Tanz«, sagte sie. »Harris hat gesagt, er würde uns gerne beide morgen hier abholen und mit uns hinfahren.« Sie lächelte Sarah fröhlich an. »Er ist mit reingekommen, um deine Mama und deinen Daddy zu begrüßen, und sie haben gesagt, wir dürfen. Mit dem Auto dauert es keine Stunde von hier nach Berea, sagt er.«
Jetzt erst bemerkte Mary Elizabeth Mazes Haare, die ihr in einem ordentlich geflochtenen Zopf auf den Rücken hingen. Gekleidet war sie ebenfalls ordentlich. Sie trug eine Wollhose und eine über einer weißen Bluse zugeknöpfte rote Strickjacke. Wo waren ihre wilden Locken und die verschossenen Kleider oder Latzhosen, die sie im College trug?
»Morgen ist Kirche, Maze.« Mary Elizabeth warf einen Blick auf ihre Mama und trank einen Schluck Tee. Schon wieder diese verdammten Tanzabende. Warum konnte Maze sie damit nicht in Ruhe lassen? »Ich muss da sein und Klavier spielen.«
»Wann ist denn der Gottesdienst?«, fragte Maze.
»Um elf«, antwortete Mary Elizabeth. Dann fragte sie sich plötzlich, wo denn eigentlich Mazes Fahrer geblieben war. »Wo ist denn dieser Harris Whitman?« Ihre Stimmlage überraschte sie – genau wie die ihrer alten Lehrerin Miss Wright, dachte sie, als sie sich hörte.
»Er musste zurück nach Berea, M. E. Er kommt morgen zurück. Der Tanz ist erst um vier, wir könnten erst hier zur Kirche gehen und …«
»Wolltest du heute hier übernachten ?« So etwas konnte sie sich nicht einmal vorstellen.
Maze begegnete ihrem Blick, dann senkte sie die Augen. »Wenn ich darf, M. E.« Sie hob den Kopf wieder und sah Sarah an. »Ich hätte erst fragen sollen. Tut mir leid, ich dachte nur …«
»Maze, wir haben eigentlich keinen Platz.« Mary Elizabeth machte eine ausholende Handbewegung, wie um die geringe Größe des Hauses zu unterstreichen. »Es gibt nur die beiden Schlafzimmer oben.«
»Wir können in deinem Zimmer auf dem Fußboden einen Schlafplatz bauen, Mary Elizabeth.« Das war wieder Sarah. Ihre Stimme klang
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