Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
sie mit dem Strawinsky nach Hause geschickt. Bisher hatte sie sich nicht überwinden können, ihn aufzuschlagen.
Allerdings hatte sie ein wenig gespielt. Nachdem sie den Fußboden des Altarraums gebohnert hatte, setzte sie sich ans Klavier, atmete ein paarmal ein und aus und ließ ihre Finger durch die Töne einiger Kirchenlieder gleiten. Sie spielte sie langsam, ohne dabei zu denken. Wayfaring Stranger . Precious Lord, Hear My Prayer . The Old Rugged Cross . Am ersten Weihnachtstag spielte sie zum Weihnachtssingen Stille Nacht und Oh Little Town of Bethlehem , aber als ihr Daddy sie mit stolzgeschwellter Brust bat, eines der Stücke von ihrem Konzert am College zu spielen, schüttelte sie peinlich berührt den Kopf und starrte zu Boden.
Sie wusste, wie die anderen sie anschauen würden, selbst wenn er es nicht sehen konnte. Nicht sehen wollte. Wie sie hinter ihrem Rücken die Köpfe schütteln und missbilligende Geräusche machen würden. Hält sich wohl für was Besonderes . Tante Paulie hatte sie gewarnt. »Wenn du so zu spielen lernst«, hatte sie gesagt und auf die leere Bühne gezeigt, nachdem sie zusammen den Pianisten in Cincinnati gehört hatten, »mach dich darauf gefasst, einsam zu sein.«
Das konnte sie ignorieren. Im Ignorieren hatte sie schon Übung. Das Augenverdrehen, das Ts, ts . Ihre eigene Einsamkeit. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Gesichter ihr so zusetzen würden. Die lächelnden, die überraschten, diejenigen, die von ihr Dankbarkeit erwarteten. Das Gesicht des Rektors, das seiner Frau. Das von Mr Roth.
Nun saßen junge Leute, die sie aus der Schule oder der Kirche ihres Vaters kannte, auf ihren Veranden und winkten Mary Elizabeth halbherzig zu. Niemand lud sie ein, sich zu ihnen zu setzen. Sie wussten, nahm sie an, dass sie das nicht wollte.
Als sie noch klein war, hatte sie mit anderen Kindern in der Nachbarschaft gespielt. Mit einer, Hannah Wilson, war sie besonders eng befreundet gewesen. Sie erinnerte sich an eine süße, atemlose Traurigkeit, wenn sie sich bei Einbruch der Dunkelheit von Hannah verabschieden musste, wenn sie beide zum Schlafengehen gerufen wurden. Aber als Mary Elizabeth neun war, zog Hannah Wilson mit ihrer Mutter nach Atlanta.
Ihr Gefühl, isoliert zu sein, sich irgendwie von den anderen dort auf der Big Hill Road zu unterscheiden, hatte sich nur noch verstärkt, seit Mary Elizabeth nach Berea gegangen war. Das College kam ihr so anders vor als ihre Heimatstadt, als diese heruntergekommenen, lärmenden Straßen zwischen ihrem Elternhaus und der Kirche ihres Daddys, die Bahngleise, der Laden an der Ecke. Jetzt fühlte sie sich haltlos, ziemlich verloren, weder in Richmond noch in Berea richtig zu Hause.
Dennoch war der Heimweg aus der Kirche ihr so vertraut, dass sie einen Kloß im Hals spürte. Der Geruch nach Brathähnchen. Die räudigen Hunde, die durch die Straßen streunten, jede Hintertür nach Abfällen abklapperten. Das rote Licht der Dämmerung, das die Freiräume zwischen schiefen Häuschen mit abblätternder Farbe und schäbigen alten Sofas auf der Veranda ausfüllte – kleine Schnipsel einer Aussicht auf die Berge dahinter. All das wärmte sie, entzog sich ihr dann aber rasch, blieb irgendwie gerade eben außerhalb ihrer Reichweite.
Zu Hause brannte eine Lampe im Wohnzimmer, und sie hörte Stimmen, als sie näher kam. Durchs Fenster sah sie das Teegeschirr ihrer Mutter auf dem Tisch stehen. Zweifellos irgendwelche neugierigen Kirchgängerinnen, die sehen wollten, wie Sarah Cox sich so machte. Doch es ging ihr gut, seit sie aus Berea zurück waren – keine weiteren Anfälle. Vielleicht würde dieser Besuch problemlos ablaufen, vielleicht müsste Mary Elizabeth nicht ihre flüsternde, zischende Mutter aus dem Zimmer führen – zur Genugtuung der Frauen, die zu Gast waren. Als sie die Haustür öffnete, entdeckte sie zu ihrem Schrecken ihre Mutter im Wohnzimmer, Tee schlürfend und nickend, und ihr gegenüber Maze.
Maze stellte ihre Tasse ab, sprang auf und umarmte Mary Elizabeth. »M. E.!«, sagte sie. »Wir haben uns gerade darüber unterhalten, wo deine Mama aufgewachsen ist. Elba Helton kommt aus der Gegend von Stanford – erinnerst du dich an sie? Eine aus meiner Webgruppe?« Sie wandte sich Sarah Cox zu. »Ich gebe nicht so schlimm an, wie es klingt, wenn ich sage, dass Elba und ich die Besten in unserer Gruppe sind. Elba hat es von ihrer Oma gelernt. Sie meint, es ist hübsch drüben in Stanford, aber sie glaubt nicht, dass sie
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