Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
Augen schmerzten. Überirdisch, hätte sie gesagt, wenn ihr das Wort eingefallen wäre. Mehr Geist als Materie, als Lunge und Herz, Haut und Blut. Da war tiefer Kummer zu spüren, aber auch etwas, das im Begriff war aufzusteigen, zu flattern wie ein zarter Flügel und weit fort von ihnen allen zu fliegen. Wie Schwester Georgia, die zwar erdverhafteter war, stärker an das Gras und den staubigen Boden dort oben auf dem Holy Sinai’s Plain gebunden, aber ebenfalls im Begriff, von der Erdoberfläche abzuheben. Endlich frei, wie es in dem berühmten Gospelsong heißt, wenn auch ohne Dank an Gott, den Allmächtigen.
Maze hatte früher geglaubt, sie würde vielleicht versuchen, eine von denen zu werden, die zuckend und wirbelnd in so etwas wie einen Himmel aufsteigen. Doch dann kam Harris, seine Berührungen, seine Nähe und sein Geruch, und sie wurde von ihm zurück auf die Erde gezogen, dort festgehalten und verankert. Sie spürte es in ihrem Allerinnersten, als er mit ihr tanzte und ihre Taille umschlang und sie küsste.
Sie stellte Ähnlichkeiten mit ihrer Mutter fest, die sie nie geahnt hatte. Verwurzelt, festgewachsen, Teil der Erde, des fruchtbaren, dunklen Lehmbodens. Es gab die anderen – ihre alte Grandma, die in ihrem Schaukelstuhl auf der Veranda schlief und eines Nachmittags nicht mehr aufwachte, Schwester Georgia, Sarah Cox – sie alle durchtrennten die Bande, von denen sie festgehalten wurden, und schwebten davon. Aber nicht sie, nicht Maze. Nicht jetzt.
Und Mary Elizabeth? Bei Mary Elizabeth konnte Maze es wirklich schwer einschätzen.
In den dunklen, kalten Wintermonaten und bis in den Frühling hinein war Mazes Mitbewohnerin wie ein Geist, der kam und ging, aber nie verweilte. Der irgendwie schwebte, aber mehr noch rannte und rannte und dann innehielt – mit dem ganzen Gewicht ihrer Bücher auf einem Schreibtisch und ihren Händen für immer auf den Tasten eines Klaviers. Den Winter über und bis in den Frühling hinein sah Maze sie kaum.
Doch einmal, an einem Freitagabend im Februar, als sie zusammen im Speisesaal aßen, sagte Maze: »Du hast mir nie erzählt, dass deine Tante Paulie auch Gitarre gespielt hat.«
Mary Elizabeth sah sie über den Rand ihres Glases an, während sie einen Schluck Milch trank, beobachtete sie und zögerte einen Moment, mit einem Blick, der zu sagen schien: Eine solche Verrücktheit hätte ich erwarten müssen, jedenfalls von dir.
Dann stellte sie das Glas hin und wischte sich den Mund mit der Serviette ab. »Weil es nicht stimmt«, sagte sie.
»Tja, laut deinem Vater aber schon«, gab Maze gereizt zurück. Nie da sein, dachte Maze, und wenn doch mal, dann fauchen wie eine Katze und allem widersprechen, was Maze sagte.
»Da lag auch eine Gitarre auf dem Speicher, als wir die Truhe deiner Tante Paulie geholt haben. Er wollte nicht, dass ich sie mit nach unten nehme. Als ich ihn gefragt hab, wem sie gehört, hat er gesagt, sie muss sie gespielt haben, aber er kann sich nicht genau erinnern.«
Mary Elizabeths Miene verdunkelte sich. Jetzt war sie ebenfalls wütend. Warum lagen sie sich dieser Tage ständig in den Haaren?, überlegte Maze. War es wegen dem, was Maze bei ihrem Besuch an Silvester getan hatte? Lag es daran, dass sie in dieser Nacht eine Grenze überschritten hatte? Aber sie hatte sich entschuldigt, mehr als einmal. Und jedes Mal hatte Mary Elizabeth gesagt: »Ist schon gut, du brauchst dich nicht zu entschuldigen, ich wollte es ja.«
Nun sagte sie: »Wenn mein Daddy sie nicht mit nach unten bringen wollte, muss er seine Gründe gehabt haben. Es gibt vieles, was meine Mama ohne ersichtlichen Grund aufregen kann. Er weiß, dass wir vorsichtig sein müssen.«
»Ohne ersichtlichen Grund.« Maze sah sie unverwandt an.
»Genau, Maze.«
»Aber bist du denn gar nicht neugierig, welche Gründe es geben könnte ? Liebe Güte, Mary Elizabeth, woher weißt du, dass deine Mama nicht selbst Gitarre gespielt hat? Vielleicht wartet sie nur darauf, dass jemand sie fragt. Willst du so was überhaupt nicht erfahren? Wer sie war, warum sie ihre Anfälle hat – gibt es nicht Sachen, die du gern über sie wüsstest?«
»Vielleicht. Vielleicht gibt es welche«, zischte Mary Elizabeth mit schmalen Lippen. »Aber ich habe keine Lust darauf, meine Mama mit Fragen zu belästigen, die sie nicht beantworten will, Maze.« Sie räumte ihren Teller, das Glas und die Serviette auf ein Tablett und stand auf. »Und ich weiß nicht, was dich auf die Idee bringt, dass deine Mama
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