Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
nicht selbst ein paar Geheimnisse hat. Wie viel hat sie dir zum Beispiel von deinem Vater erzählt? Was weißt du überhaupt von ihm? Und warum, glaubst du, will sie dir Harris Whitman unbedingt ausreden?«
Damit drehte sie sich um und ging. Sie sprachen über eine Woche lang nicht miteinander.
Trotzdem war Maze nach diesem Abend im Speisesaal froh, zumindest eine Weile. Froh, dass Mary Elizabeth so aufmerksam gewesen war, immerhin aufmerksam genug, um gewisse Dinge an Vista zu bemerken, an ihr. Natürlich war schwer zu übersehen, was ihre Mama von Harris Whitman hielt. Es war laut und vernehmlich in jedem Telefonat zu hören, in jedem Brief zu lesen. So laut und vernehmlich, dass er etwas zurückwich und sagte, sie sollten vorsichtiger sein und es langsamer angehen lassen, immerhin sei sie eigentlich noch ein Kind.
Was nicht stimmte, und das wussten sie auch beide. Maze war schon neunzehn und hatte keine Lust, es langsamer angehen zu lassen. Und Harris war erst dreiundzwanzig und seit eineinhalb Jahren mit dem College fertig.
Aber er musste mehr in der Werkstatt arbeiten, sagte er. Sie sollten es langsam angehen. Also ging sie in die Webhütte und in diesem Semester sogar gewissenhafter in den Unterricht. Sie traf sich mit anderen Studenten, älteren, die meisten davon Freunde von Harris – Daniel und Philip mit ihren ungestutzten Bärten und ihren immer aus der Hose hängenden Hemdzipfeln sowie Jean und Sarabeth, die Zigaretten rauchten und sich wie Maze nie schminkten oder die Haare einlegten. Sie schrieben für die Collegezeitung Artikel zur Unterstützung der Industriearbeitergewerkschaft CIO und der Bergarbeitergewerkschaft UMWA oder auch über »Bereas Negerproblem«. (»Das Problem«, begann ein Text, dessentwegen Phil zum Rektor zitiert wurde, »hat nicht Berea, sondern die armen Neger, die hier gestrandet sind.«)
Sie waren wagemutig und rechthaberisch – so wie Schwester Georgia es gewesen sein musste, dachte Maze, als sie vor vielen Jahren in Berea gelebt hatte. Als sie die unerschrockene Miss Ward war, ihren Studenten Gedichte vorlas, sich den Schulleitern und ihren neuen und für sie unannehmbaren Regeln widersetzte.
Die Wochen vergingen und bald war der Frühling da – zuerst rosa Blüten am Judasbaum, dann Fliederduft in der Brise vor ihrem Fenster, kurze Ärmel und rauschende Bäche und Wanderungen über die steilen Pfade von Devil’s Slide und Fat Man’s Misery, wenn auch nun ohne Mary Elizabeth. Jeden Samstagabend ging sie mit Harris tanzen und hinterher im Mondschein spazieren – und binnen kurzem wälzten sie sich auf dem jetzt ergrünten Hügel, das Blut erneut in Wallung, und vergaßen in der Wärme und dem Geruch ihrer eigenen erblühenden Körper völlig, dass sie es langsam angehen lassen wollten.
Maze beschloss, nach den Abschlussprüfungen noch ein paar Tage zu bleiben, um einige Arbeiten in der Webhütte fertigzustellen und um Mary Elizabeths Konzert zu besuchen. Seit Wochen hingen Plakate auf dem Campus und in der Stadt. Jemand vom Louisville Courier-Journal hatte Mary Elizabeth interviewt. Ihr Daddy hatte drei Exemplare des Artikels geschickt.
Eines Tages hörte Maze Daniel und die anderen darüber schimpfen, als sie neben einem der Plakate vor der Bibliothek standen. Das verwirrte Maze. Natürlich kannten sie Mary Elizabeth nicht so gut wie Maze, aber sie waren ihr öfter begegnet und mochten sie doch, oder etwa nicht?
»Natürlich mögen wir sie«, sagte Phil. »Das ist ja genau das Problem. Deshalb ärgert uns so, was sie mit ihr machen.«
Doch Daniel zupfte ihn am Arm und schüttelte den Kopf, und niemand sagte mehr etwas.
Da ahnte Maze zum ersten Mal – komisch im Nachhinein –, dass die ganze Aufmerksamkeit, die Mary Elizabeth bekam, vielleicht nichts Gutes war. Das zweite Mal folgte am Morgen vor dem Konzert, als Maze wie üblich in einem leeren Zimmer aufwachte. Mary Elizabeth war sicherlich seit Stunden auf. Als sie an jenem Morgen aufstand, bemerkte Maze erschrocken, dass fast alle von Mary Elizabeths Sachen gepackt und ihre Koffer neben der Tür aufgereiht waren. Der Papierkorb steckte voller alter Unterlagen und Notizen, und Maze entdeckte, als ihr Blick sich nach und nach scharf stellte, darunter die Noten zu Danse Russe aus Petruschka – eines der Stücke, die Mary Elizabeth endlos geübt hatte, Tag und Nacht, viereinhalb Monate lang. Und dennoch hatte sie sich eisern geweigert, es für Maze zu spielen.
Visitor
1943–1947
V ista und Nicklaus
Weitere Kostenlose Bücher