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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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Jemands, genauso verheißungsvoll leuchten könnte wie Harmony Ridge morgens für sie.
    Im Juli 1946 schrieb Vista an Shade Nixon, sie würde ihn gern besuchen, und am Ende des Sommers hatte sie eine Stelle in der Küche des Beau Rive Hotels. Außerdem bewohnte sie ein kleines Zimmer mit einem schmalen Bett, das sie sich mit Maze teilte, im »Angestelltenquartier« – einem neuen kasernenähnlichen Gebäude neben zwei winzigen Hütten, die, wie sie später erfahren würde, ehemalige Sklavenhütten waren –, einen knappen Kilometer von der leichten Erhebung entfernt, auf der das Hotel stand.
    In der Küche bereitete sie Grünkohl zu und Löffelbrot und unzählige Platten gebackenes Hühnchen und Wels. Nichts von alledem war neu für sie, außer dass mehr Pfeffer verwendet wurde, als sie gewohnt war. Für Vista war das meiste typische Feiertagsküche, aber hier in Harrodsburg oder zumindest im Beau Rive Hotel, gehörte solches Essen offenbar zu »Südstaatencharme und Gastlichkeit« des Lokals, und die Leute aßen es jeden Tag. Es war eine anstrengende Arbeit, aber Vista war schnell und ordentlich, und mehr als einmal hörte sie eine der Köchinnen oder Kellnerinnen sagen, dass sie nicht unbedingt so sei, wie man das von einer aus den Bergen erwarten würde.
    Da überlegte Vista zum ersten Mal, ob deshalb vielleicht Nicklaus Jansen damals zu dem Schluss gekommen war, einen Fehler begangen zu haben. Vielleicht, dachte sie, war er aufgewacht und hatte festgestellt, dass er ein armes Mädchen aus den Bergen geheiratet hatte. Vielleicht hatte es daran gelegen. Über solche Dinge dachte sie nach, während sie in der heißen Küche des Beau Rive Hotels stand und dicke Fettschichten aus den Pfannen schabte.
    Kochen im Beau Rive Hotel bedeutete, mindestens zwei Mahlzeiten am Tag zuzubereiten – entweder Frühstück und Mittagessen oder Mittag- und Abendessen –, sowie das gesamte Aufräumen und Putzen nach jeder Mahlzeit. Zwar war ihr die Arbeit vertraut, doch bald schon fiel Vista auf, dass sie bei weitem die Jüngste unter den Küchenangestellten war. Die drei anderen Frauen, die dort kochten, waren alle im Alter von Grandma Marthie und genauso von Rheumatismus und anderen Beschwerden geplagt wie sie.
    Die jungen Frauen in Vistas Alter arbeiteten entweder als Zimmermädchen oder als Kellnerin, was bedeutete, sie bekamen etwas zusätzliches Trinkgeld von wohlhabenden Gästen aus Orten wie Lexington oder Frankfort, manchmal sogar aus Louisville oder Cincinnati. Und schließlich erfuhr Vista durch ein Gespräch mit einem Zimmermädchen namens Mavis, das sie oft zu einer Zigarette auf der Treppe hinter der Küche einlud, dass deren Stundenlohn fünf Cent höher lag als ihr eigener. Eines Nachmittags im Herbst sprach sie Shade Nixon darauf an, als sie nach dem Mittagessen die Küche aufgeräumt, ihm, wie sie es häufig tat, eine Tasse Kaffee gebracht hatte und nun in seinem Türrahmen lehnte, um etwas zu plaudern.
    Mit seinen immer trüben Augen sah er leicht gereizt zu ihr auf. »Na, komm schon, Vista, du weißt, dass du Vergünstigungen kriegst, die die anderen nicht haben …«
    »Nämlich was?«, fauchte Vista, ärgerlich über Shade Nixons unerschütterliche Loyalität gegenüber seinen Chefs.
    »Einen Platz zum Wohnen, zum Beispiel.« Er deutete mit dem Kopf auf das Fenster Richtung Angestelltenunterkünfte.
    »Shade Nixon, du machst doch jede Woche die Rechnerei, du weißt doch genauso gut wie ich, dass sie mir drei Dollar Miete pro Woche abziehen. Für ein Bett und einen Tisch und ein kaputtes Klo auf dem Gang.«
    »Und du bekommst hier deine Mahlzeiten umsonst.« Er tat, als hätte er sie gar nicht gehört.
    » Alle essen in der Küche.« Jetzt schrie sie fast. »Ich muss das wissen, Shade, weil ich das Zeug jeden verfluchten Tag koche.«
    Dann spielte er die Karte aus, die er sich aufgehoben hatte – diejenige, die immer funktionierte, die bei Vista unweigerlich funktionieren musste. Er zeigte auf Maze, die an einem Tischchen vor seinem Büro saß und Bilder aus ein paar neuen Büchern abmalte, die er ihr aus der Bücherei in Harrodsburg mitgebracht hatte.
    »Wo sonst«, fragte er mit düsterer Stimme, »glaubst du, könntest du leben und arbeiten, ohne dir Sorgen um das kleine Mädchen machen zu müssen?«
    Wie aufs Stichwort sah Maze zu Vista auf, die Augen weit aufgerissen, als hätte sie genau diese Frage selbst schon stellen wollen. Und Shade marschierte aus dem Büro.
    Später kam Vista mit einem noch warmen

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