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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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Jansens Tochter Amazing Grace Jansen kam an einem milden Aprilmorgen zu den Klängen des von der Carter Family gesungenen Lieds zu Welt, nach dem sie benannt wurde. Denn obwohl Vista und Grandma längst weitere Schallplatten in ihr Repertoire aufgenommen hatten – Red Foley und Bill Monroe und andere –, so war es doch die Carter Family, die Vista an diesem Morgen hören wollte. Shade Nixon hatte das Gerät angestellt. Grandma Marthie hatte natürlich genug anderes zu tun, und außerdem hatte sie nie lernen wollen, wie man die Nadel auf eine Platte setzte. Es mache sie zu nervös, sagte sie.
    Obwohl es Vistas Lieblingslied war und ihre Tochter danach benannt werden sollte, fiel es ihr doch schwer, das sich windende, schnaubende kleine Bündel in ihrem Arm mit einem so gewaltigen Namen wie »Grace« in Einklang zu bringen. Also nannte sie ihre Tochter Maze.
    In jenem Frühling ließ sich alles etwas Zeit mit dem Blühen, und die Vögel schienen ihren Gesang im Morgengrauen leicht zu dämpfen. Zumindest kam es Vista so vor. Den gesamten Frühling und Sommer fühlte sie sich so, träumerisch und weich, während sie ihr Kind stillte und mit ihm im Schatten ihres alten Lieblingstulpenbaums döste. Später, als die Luft abends und am frühen Morgen bereits etwas frostiger war, wurde sie ein kleines bisschen wacher, genug, um ihr seine Umwelt erforschendes Töchterchen vom Ofen oder den Verandastufen zu verscheuchen. Im Winter kamen die rotblonden Locken ihrer Tochter zum Vorschein, so straff, als wären sie eingedreht und festgesteckt worden, aber mit einem Goldglanz, der nachts im Lampenlicht schimmerte.
    An Winterabenden tanzte Vista mit der kleinen Maze auf dem Arm um den Ofen herum, und an manchen Abenden ließ sie Shade Nixon sogar seine Klassikplatten auflegen. Maze schienen sie ohnehin zu gefallen, besonders die Walzer von Chopin, zumindest behauptete Shade das. Grandma Marthie saß währenddessen im Schaukelstuhl am Ofen und versuchte eine bequeme Sitzposition zu finden. Ihre Gicht machte ihr in jenem Winter schwer zu schaffen.
    Alles in allem war es eine angenehme Zeit, der Winter nach Mazes Geburt. Doch der Frühling war völlig anders. Dieses Mal war er nicht weich. Denn plötzlich war Vista in jenem Frühling einsam. Sie wachte am ersten sonnigen Tag auf und wusste es: Sie sehnte sich nach der Berührung eines Mannes. Der einzige Mann aber, der ihr je über den Weg lief, war Shade, und bei ihm würde sie keinen Trost finden. Manche Dinge wusste eine Frau einfach. Die anderen jungen Männer hatten das Tal seit dem Beginn des Krieges in Scharen verlassen, und bisher hatten diejenigen, die überlebt hatten, wenig Interesse gezeigt zurückzukehren.
    In dem Jahr, als Maze drei wurde, bekam Shade Nixon eine Stelle als Buchhalter in einem großen Hotel in Harrodsburg angeboten, achtzig Kilometer Richtung Westen. Dass selbst er fortging, dass so viele Menschen irgendwohin gingen, löste in Vista den Wunsch aus, sich Landkarten anzusehen. Also zog sie in jenem Sommer all ihre alten Bücher und Hefte aus den Tagen ihrer Schulzeit bei Miss Drury hervor. Westen oder Norden – das waren eindeutig die beiden einzigen Möglichkeiten, dachte sie, als sie die Karte der Vereinigten Staaten betrachtete, die Miss Drury ihr an dem Tag geschenkt hatte, als sie das Klassenzimmer ausgeräumt hatte. Im Osten lag West Virginia, und Vista wusste, dass das nichts als Kohlebergwerke und mit Sicherheit weitere sich schnell leerende Ortschaften bedeutete. Im Süden Tennessee und Großstädte wie Memphis, wo eine alleinstehende Frau schon mal von einer Straßenbahn überfahren werden konnte.
    Also vielleicht gen Westen – zumindest bis nach Harrodsburg, wo Shade Nixon eine hübsche Wohnung über einem vornehmen Möbelladen und ein eigenes Büro gleich neben der Lobby eines erstklassigen Hotels hatte. Komisch, dachte Vista, den Westen so zu sehen. Ihr gesamtes Leben lang war ihr der Westen trüb und grau vorgekommen, der Osten heller und rosa und lila umrahmt, weil es so von Grandma Marthies Hütte aus immer ausgesehen hatte. Im Osten ging die Sonne über dem Kamm von Harmony Ridge auf und tauchte das Tal in Morgenlicht. Wenn sie unterging, war sie schon längst hinter dem Pinecone Knob, der immer von einem grauen Schleier umgebenen Anhöhe vor Grandmas Hütte, verschwunden. Zum ersten Mal kam Vista der Gedanke, dass ihr Westen für jemand anderen Osten war und dass die andere Seite des Pinecone Knob vielleicht, aus der Sicht dieses

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