Wie ein reißender Strom: Roman (German Edition)
Mädchen beschützte. Wahrscheinlich glaubte der Narr, er sei in sie verliebt, genau wie er vor Jahren in ihre Mutter verliebt war. Priscilla hätte nicht mit Lydia oder Banner getauscht, aber es ärgerte sie, dass Jake beide ihr vorzog. Wann war er ihr je zu Hilfe geeilt? Seit dem Tag, an dem sein Bruder getötet wurde, war sie für ihn nicht mehr als ein Fußabtreter. Und war sie das nicht für alle Männer?
Sie benutzten sie. O ja, sie reagierten ihre Frustrationen bei ihr ab, erfüllten sich ihre wildesten Gelüste, aber hatte sie je mehr von einem Mann bekommen als die Brosamen seines Lebens, die Familie und Geschäft übrig ließen? Wann hatte ein Mann, irgendein Mann sie je mit solch einer zärtlichen Beschützermiene angeschaut wie Jake dieses Coleman-Mädchen?
Sie verachtete sie alle.
Gerade als sie zu diesem Schluss gelangt war, nahm eine ihrer männlichen Heimsuchungen Gestalt an. Dub Abernathy überquerte mit seiner üppigen Gattin und der pferdegesichtigen Tochter im Schlepptau die Straße. Wenn sie jemanden trafen, tippte er grüßend an den Hut. Die linkische Tochter lächelte albern, als der Vater sie einem Herrn vorstellte. Die Frau sah wohlgenährt und selbstgefällig aus. Und warum auch nicht? Sie war die Ehefrau eines der führenden Köpfe der Stadt. Priscilla fragte sich, ob Mrs Abernathy immer noch so blasiert dreinschauen würde, wenn sie wüsste, zu welcher Verderbtheit ihr Gatte im Bett fähig war.
Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, hob Priscilla ihren Rock zierlich an und trat vom Bürgersteig hinunter auf die Straße. Sie überquerte sie langsam und erregte dabei so viel Aufmerksamkeit wie möglich, während sie die Abernathys im Blick behielt. Dub half erst seiner Frau und dann seiner reizlosen Tochter in ihren schwarz glänzenden Wagen, der von einem wundervollen Grauschimmel gezogen wurde. Dub stieg gerade selbst ein, als Priscilla sie erreichte.
Der Blick schieren Entsetzens auf Mrs Abernathys Gesicht befriedigte sie zutiefst. Ihr schwammiger Kiefer hing schlaff herunter. Das käseweiße Gesicht der Tochter zeigte völligen Unglauben. Sie wussten, wer sie war, und das entzückte Priscilla.
»Guten Morgen, Dub.« Ihre Stimme war heiser und vertraulich, aber laut genug, dass jeder in der Nähe hören konnte, wie sie ihn mit Vornamen anredete.
Beim Einsteigen in den Einspänner erstarrte er. Dann wandte er langsam den Kopf und sah Priscilla an. Wenn Blicke töten könnten, wäre sie auf der Stelle tot gewesen. Dann kletterte er ohne ein Wort in den Einspänner und gab dem Pferd einen heftigen Klaps mit der Peitsche.
Priscilla schaute sich um und lächelte verschlagen. Sie hatte Publikum gehabt. Gut. Dub Abernathy brauchte ein wenig Erniedrigung. Sie hätte gerne Mäuschen gespielt bei der Erklärung, die er seiner Frau abgeben würde, sobald sie ihre Villa erreicht hatten.
Etwas besänftigt nach Jakes Zurückweisung trat sie auf den Bürgersteig zurück und machte sich auf den Heimweg zum Hell’s Half Acre.
Banner saß regungslos in einem Stuhl direkt beim Fenster, als Jake hereinkam. »Banner?«
Er durchquerte den Raum und kniete sich vor ihr hin. Ihre Hände lagen schlaff in ihrem Schoß. Er bedeckte sie mit seinen Händen. »Banner, was ist? Was hat sie dir gesagt?«
Sie hatte ausdruckslos aus dem Fenster gestarrt und wandte ihm jetzt ihr Gesicht zu. Einige Sekunden verrannen, bis sie ihn wirklich wahrnahm. Dann schüttelte sie den Kopf und lächelte zittrig. »Nichts, Jake, nichts.«
Er glaubte ihr nicht. Er hatte diesen schrecklichen Ausdruck auf ihrem Gesicht gesehen. »Erzähl mir, was sie gesagt hat. So wahr mir Gott helfe, wenn sie etwas gesagt oder getan hat, das dich aufregt, werde ich …«
»Nein«, erwiderte Banner rasch. Sie wollte nicht, dass irgendjemand wusste, was Priscilla ihr erzählt hatte, bevor sie nicht Zeit gehabt hatte, es zu verdauen und sich ihre eigene Meinung dazu zu bilden. Jake wusste von dem anderen Baby. Er hatte ihre Mutter im Wald gefunden – mit einem toten Baby. Wie weit reichte dieses Geheimnis?
War ihre Mutter vorher schon einmal verheiratet gewesen? Wenn ja, warum hatte sie Banner nichts davon erzählt? Oder war sie nicht verheiratet gewesen, bevor sie dieses andere Baby bekam? Nein! Das war undenkbar. Aber welche andere Erklärung gab es?
Sie konnte nicht so tun, als schmerze sie das nicht. Denn das tat es. Wenn sie es auf irgendeine andere Weise herausgefunden hätte, wäre das erschütternd genug gewesen, aber es von
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