Wie ein reißender Strom: Roman (German Edition)
gewesen. Wie war Lydias Leben verlaufen, bevor Jake und Luke sie im Wald entdeckten? Warum hatten alle das Geheimnis des tot geborenen Babys gewahrt?
Warum hatte Jake sich vergangene Nacht davongestohlen, nachdem er den ganzen Tag solch ein liebevoller Begleiter gewesen war? Warum zog er Priscillas Bett ihrem vor?
Warum, warum, warum?
Diese Fragen rollten wie verdorrtes Gestrüpp durch Banners Gedanken, blieben aber nie an einer Antwort hängen. Würde sie je alle Fragen beantwortet bekommen?
Es ging auf elf Uhr zu. Als jemand klopfte, sagte sie ohne zu zögern: »Herein.«
Sie hörte, wie die Tür sich hinter ihr öffnete und wieder schloss. Sie drehte sich um. Nicht Jake stand auf der Türschwelle, wie sie erwartet hatte. Auch nicht Lee oder Micah.
»Grady!«
»Hallo, Banner.«
»Was um alles in der Welt tust du hier?«
»Langston hat dir nicht erzählt, dass ich in der Stadt bin?« Er schleuderte seinen Bowlerhut auf einen Tisch. Er trug einen karierten Anzug. Sein weißes Hemd war makellos sauber und hatte einen hohen gestärkten Kragen. Aber sein Gesicht sah eingefallen aus. Ausschweifender Lebensstil hatte feine Linien um seine verquollenen Augen hinterlassen.
»Nein. Wann hast du Jake gesehen?«
»Vorgestern Abend. Seitdem habe ich versucht, dich zu sehen. Aber er hat dich ganz schön auf Trab gehalten.«
Unerklärlicherweise hatte sie Angst vor Grady. Es war überhaupt nicht schicklich, dass ein Herr eine unverheiratete Frau in ihrem Hotelzimmer aufsuchte. Wenn sie und Jake allein gewesen waren, hatte sie nicht einmal an Konventionen gedacht, aber jetzt wollte sie Grady darauf hinweisen in der Hoffnung, dass er dann ging. Die Art, wie er sie anschaute, mit einem entschlossenen Leuchten in den Augen, machte sie nervös.
»Was machst du in Fort Worth?«
»Geschäfte«, antwortete er ausweichend. »Es ließ sich nicht vermeiden, sonst wäre ich nie aus Larsen abgereist, ohne dich zu benachrichtigen.« Er kam weiter in den Raum hinein. »Hast du über meinen Heiratsantrag nachgedacht, Banner?«
»Ja, ich habe darüber nachgedacht.«
»Und?«
Sie stellte sich hinter den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, und brachte ihn so unbewusst zwischen sie. »Ich habe mich noch nicht entschlossen.« Sie versuchte, Zeit herauszuschinden, weil sie hoffte, dass Jake zurückkommen würde. Warum hatte er ihr nicht gesagt, dass Grady in Fort Worth war?
»Du hattest dich bereits vor Monaten entschlossen, mich zu heiraten. Was hat sich geändert?«
Ungläubig starrte sie ihn an. »Was sich geändert hat? Alles. Die Situation. Ich. Du. Alles.«
»Ich nicht. Ich bin derselbe Mann. Du bist dieselbe Frau. Die Situation, wie du es nennst, ist in Ordnung gebracht worden.«
Wie konnte er nur so beiläufig über den schrecklichen Feuertod seiner Frau und seines ungeborenen Kindes sprechen? »Ich würde die Art und Weise, wie die Situation behoben worden ist, nicht gerade einen Segen nennen.«
»Ich auch nicht«, sagte er und ließ einen Augenblick den Kopf hängen. »Aber ich habe es dir schon gesagt, Banner, dass ich das Gefühl habe, ich hätte eine zweite Chance bekommen. Ich liebe dich immer noch und möchte dich zur Frau. Empfindest du gar nichts mehr für mich?«
Ihr wurde klar, dass sie das nicht tat. Keine Zuneigung oder Liebe, kein Hass, nicht einmal Mitleid, das sie zuvor empfunden hatte. Wie hatte sie nur je glauben können, in ihn verliebt zu sein? Warum hatte sie vorher nicht erkannt, wie oberflächlich er war?
Er sah ganz gut aus, zog sie aber nicht besonders an. Im selben Bett mit ihm schlafen, Zärtlichkeiten mit ihm austauschen? Nein! Es gab nur einen Mann, dem sie sich hingeben wollte, und das war Jake.
Jake.
Sie liebte ihn.
Ganz gleich, wie er sie verletzt hatte, sie liebte ihn. Auch nur in Erwägung zu ziehen, das Leben mit einem anderen Mann zu verbringen, war unvorstellbar. Lieber würde sie alleine leben als mit einem anderen Mann als Jake.
Aber sie konnte Grady gegenüber nicht mit ihren wahren Gefühlen herausplatzen. Das wäre grausam. Und sie traute auch seiner frisch erworbenen Arroganz nicht. So war er vorher nie gewesen. Stets war er demütig und bescheiden gewesen, besonders wenn ihre Eltern in der Nähe waren. Sah sie ihn jetzt, wie er wirklich war? Hatte er mit seinen freundlichen Manieren und seinem unterwürfigen Verhalten nur versucht, Ross zu beeindrucken?
Diese gespaltene Persönlichkeit ängstigte sie, daher antwortete sie vorsichtig. »Natürlich habe ich noch Gefühle
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