Wie ein reißender Strom: Roman (German Edition)
offensichtlich war, dass ihn das nicht weiter störte.
»Kommst du zufällig vorbei?«, fragte er, die Zigarre zwischen die Zähne geklemmt. Sie waren etwa einen Kilometer vom Haus entfernt.
Sie lächelte ihn an und sah genauso aus wie die junge Frau von zwanzig, die sein jugendliches Herz erobert hatte. »Ma hat mir gesagt, wo du bist.«
»Und woher weiß sie das? Ihre Gabe, mich aufzustöbern, wenn ich nicht gefunden werden will, ist einfach seltsam. Einmal hat sie mich gefunden, wie ich mit Priscilla Watkins in einem Bachbett geschäkert habe. Ich dachte, sie würde mich blindlings erwürgen. Ich war damals sechzehn.« Er blies eine blaue Rauchwolke in die Luft. »Jetzt bin ich sechsunddreißig, und sie mischt sich immer noch in meine Angelegenheiten ein.«
»Sie liebt dich.«
»Ich weiß«, sagte er bekümmert. »Das ist ja der Mist daran. Ich habe bei ihr zu Mittag gegessen. Wir waren alle da. Ma, Anabeth und ihre Brut, Marynell und Micah. Aber so viele von uns fehlen. Pa, die Babys, die als Kleinkinder gestorben sind, Atlanta und Samuel. Luke.« Nachdenklich starrte er ins Wasser. »Ich vermisse ihn immer noch, Lydia.«
Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Das wirst du immer, Bubba.«
Er schüttelte den Kopf und lachte ein wenig. »Es ist schon so lange her. Aber manchmal kommt es mir immer noch so vor, als hörte ich ihn lachen. Ich ertappe mich dann dabei, dass ich mich nach ihm umschaue, weißt du?«
»Genauso vermisse ich den alten Moses.« Der Schwarze war bei ihnen geblieben, als der Siedlertreck auseinanderging. Sein früherer Arbeitgeber, Winston Hill, war getötet worden. Er hatte keinen anderen Platz, wo er hinkonnte.
Moses war Lydias Freund und Fürsprecher in jenen eigenartigen ersten Wochen ihrer Ehe mit Ross gewesen. Als sie sich auf ihrem Land niederließen und Ross damit beschäftigt war, die erste Scheune für seine Pferde zu bauen, während sie sich um den kleinen Lee gekümmert hatte, war Moses’ Hilfe unermesslich gewesen.
»Ich erinnere mich noch genau daran, wie er Lukes Leiche in die Wagenburg trug. Daran und an die würdevolle Art, wie er weinte, als Winston getötet wurde. Er war einer der mitfühlendsten Männer, die ich je kennengelernt habe.«
Jake bedeckte ihre Hand, die auf seinem Arm lag, mit seiner. »Jener Sommer hat uns alle verändert, nicht wahr?«
»Mich und Ross ganz bestimmt.« Sie blickte auf Jakes Profil. Seine erwachsene Reife war ihr noch fremd und hörte nie auf, sie zu überraschen. Wenn sie ihn anschaute, erwartete sie jedes Mal, dass er immer noch der Blondschopf mit den weit aufgerissenen blauen Augen war, der sie im Wald gefunden hatte. »Und dich, Jake. Ich glaube, dich hat er am meisten verändert.«
Das musste er zugeben. In jenem Sommer hatte er seine Unschuld verloren. Jene Monate im Treck waren voller Widrigkeiten gewesen, mehr als ein Mann ein Leben lang bewältigen müssen sollte. Bubba Langston war schnell erwachsen geworden. Und man wurde nicht so rasch erwachsen, ohne dass es Spuren hinterließ.
Lydia zog ihre Knie an, schlug die Röcke um die Beine und stützte ihr Kinn auf die Knie. »Ich habe mit Ross gesprochen.«
»Und er hat dir gesagt, wie meine Anwort lautet.«
»Ich werde deine Meinung ändern.«
»Auf mich darfst du nicht zählen, Lydia. Rechne nicht mit mir, in keiner Hinsicht.«
»Das tue ich aber. Ich zähle auf deine Freundschaft.«
»Die hast du, aber …«
»Wir brauchen dich jetzt. Hilf uns, dass Banner diese Katastrophe übersteht.«
»Ich bin nicht der richtige Mann für den Job.«
»Doch. Du hast genau die Erfahrung, die der Job erfordert.«
»Ich rede nicht über die Arbeit. Es ist … es ist Banner.«
Lydia lachte. »Ich gebe zu, dass man manchmal nur schwer mit ihr fertigwird. Sie ist eigensinnig und ungestüm. Launisch. Sie ist eine erwachsene Frau, aber Ross und ich können sie nicht einfach laufen lassen, damit sie Fehler macht, die sie ihr ganzes Leben lang bereuen wird.«
»Ich bin kein Polizist«, fuhr er sie an.
»Das erwarte ich auch nicht. Ich erwarte, dass du das bist, was du immer für sie gewesen bist – ein Freund, ein Verbündeter. Wir vertrauen sie dir an.«
Verdammt noch mal, er wünschte, sie würden aufhören, das zu sagen! So wie die Dinge lagen, fühlte er sich entsetzlich. Mussten sie ihn ständig an seinen Vertrauensbruch erinnern?
»Ihr werdet jemand anderen finden, der genauso fähig und vermutlich noch viel vertrauenswürdiger ist. Ihre Ranch wird im Handumdrehen in Gang
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