Wie ein Ruf in der Stille: Roman (German Edition)
Lieblingsplatz. Da ihr Mann häufiger beruflich unterwegs war, unternahmen die jungen Frauen eine Menge zusammen. Lauri war froh, dass sie in der Nachbarin eine Freundin gefunden hatte, auch wenn sie in vieler Hinsicht völlig verschieden waren.
»He«, sagte Betty. Sie öffnete eine Packung Kekse und schob sich einen in den Mund. »Ich geh heute Nachmittag mit den Kindern ins Kino. In Disneys Dornröschen . Haben Sie und Jennifer nicht Lust mitzukommen?«
»Na klar. Wird bestimmt lustig.«
Die sonst so schwatzhafte Betty zögerte. »Ehrlich gesagt, war ich mir nämlich unschlüssig, ob taubstumme Kinder sich Filme ansehen und so.«
»Aber natürlich«, bekräftigte Lauri. »Wir sehen uns die Sesamstraße an, da lernt sie eine Menge Neues. Sie hört zwar nichts, aber sie sieht die Bilder, Farben und Bewegung. Das mag sie sehr.«
Jennifer gefiel der Film. Wenn sie etwas nicht verstand, formulierte sie ihre Frage in der Gebärdensprache, und Lauri antwortete ihr. Die meiste Zeit verfolgte sie jedoch verzückt den zauberhaften Trickfilm. Als die Hexe sich allerdings in einen Drachen verwandelte, fürchtete sie sich; sie kletterte auf Lauris Schoß und schmiegte sich ängstlich an sie. Ihre Lehrerin erklärte ihr, dass der Drache nicht echt sei. Das schien sie fürs Erste zufrieden zu stellen, gleichwohl nahm Lauri sich fest vor, ihr bei nächster Gelegenheit die Gegensätze real und unwirklich nahezubringen.
Es war ein langer Tag gewesen, und Lauri fühlte sich ziemlich erschlagen. Die Kinovorstellung dauerte bis zum Spätnachmittag, nachher hatten sie sich gemütlich auf den Heimweg gemacht. Betty hatte es nicht eilig, mit Sam und Sally nach Hause zu kommen. Die drei waren allein, da Jim Groves das Wochenende in den Bergen verbrachte.
Sie schlenderten durch die malerisch verschlungenen Gassen von Whispers, die drei Kinder im Schlepptau. Gelegentlich bummelten sie durch die kunsthandwerklichen Geschäfte, die Lauri brennend interessierten. Dabei schaffte Jennifer es, so ziemlich jeden um den Finger zu wickeln. Sie lebten jetzt seit einem Monat in der kleinen Gemeinde, und das Kind ging ohne Scheu auf Künstler und Ladenbesitzer zu. Mittlerweile war die sympathische rothaarige Frau, die man nie ohne die blondgelockte Kleine sah, den Bewohnern zumindest flüchtig bekannt.
Nachdem sie den dreien Hamburger und Milchshakes zum Abendessen spendiert hatten, stapften Betty und Lauri über die sanft geschwungenen Anhöhen nach Hause. Die müden, quengligen Kinder trotteten hinterdrein.
Innerhalb von Minuten hatte sie Jennifer geduscht und in ihrem neuen Kinderzimmer ins Bett gestopft. Sie selbst nahm sich vor, ein ausgedehntes heißes Bad zu nehmen. Das hatte sie sich redlich verdient, fand Lauri.
Das geräumige Badezimmer verströmte etwas sinnlich Berauschendes. Holzboden und -wände waren in nüchternem Weiß gehalten, die eingelassene Wanne jedoch aus schwarzem Marmor. Waschbecken und Duschtasse waren aus dem gleichen Material, die Duschtür aus Klar- und nicht aus mattiertem Glas, wie Lauri es eigentlich gewöhnt war.
Jedes Mal, wenn sie duschte und sich in dem wandhohen Spiegel auf der gegenüberliegenden Wand betrachtete, kam sie sich völlig verrucht vor.
Als sie in das dampfend heiße Schaumbad glitt, stellte sie verblüfft fest, wie groß die Wanne war. Mindestens neunzig Zentimeter tief und gut zwei Meter lang, schätzte sie. Sie streckte sich lang aus und genoss die entspannende Wärme.
Als sie fertig war, spülte sie sich die Haare aus und wickelte sich ein Handtuch wie einen Turban um den Kopf. Irgendwie hatte sie noch Hunger – den Hamburger von vorhin hatte sie bestimmt längst abgestrampelt. Also wickelte sie sich in ein Badetuch, stopfte das Ende in die Mulde zwischen ihren Brüsten und tastete sich im Dunkeln nach unten.
In der Küche legte sie ein paar Kräcker, die sie und Jennifer am Morgen gebacken hatten, auf einen Teller, goss sich ein Glas Milch ein und nahm beides mit ins Wohnzimmer.
Wieso sie ausgerechnet zu dem überdimensionierten Schaukelstuhl geblickt hatte, war ihr im Nachhinein ein Rätsel. Unvermittelt klopfte ihr das Herz bis zum Hals, es fehlte nicht viel, und sie hätte laut aufgekreischt. Jedenfalls zuckte sie so heftig zusammen, dass die Milch über den Glasrand schwappte und das Badetuch, mit dem sie ihre Blößen bedeckte, gefährlich tiefer rutschte.
»Seien Sie vorsichtig, sonst bekomme ich noch tiefe Einblicke in Ihre kleinen Geheimnisse«, meinte Drake
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