Wie ein stummer Schrei
durch den Flur zu Olivias Zimmer zu gehen. Er musste dieses Gefühl eines drohenden Unheils in den Griff bekommen, doch wie er das anstellen sollte, wusste er nicht. Das Interesse der Medien, die polizeilichen Ermittlungen und die Rückkehr unerwünschter Verwandter war mehr, als er bewältigen konnte. Ein Teil von ihm wünschte sich, er könnte mit Olivia noch einmal diese Reise nach Europa unternehmen, allerdings dieses mal ohne Rückflugticket.
Hinzu kamen die Sorgen um Anna. Ihre Anwesenheit in seinem Haus hätte ihm eigentlich normal erscheinen sollen, schließlich war sie sechzehn Jahre lang Mitglied dieses Haushalts gewesen, ehe sie mit einer großzügigen Pension, einem Haus und einem Auto in den Ruhestand gegangen war. Doch ihre schlechte geistige Verfassung machte Marcus nur noch mehr zu schaffen, der mit Olivias Zustand und den ständigen Nachfragen der Medien bereits mehr als genug belastet war.
Und dann waren da noch seine Gewissensbisse, die Olivias Leben angingen. Er wusste nicht, worüber er sich mehr ärgern sollte – darüber, dass er jeden Mann vergrault hatte, an dem sie jemals interessiert gewesen war, oder darüber, dass sie es wortlos hingenommen hatte. Erst jetzt wurde ihm allmählich bewusst, wie sehr Olivia ihr Leben lang von Schuldgefühlen heimgesucht worden sein musste. Aus irgendeinem Grund gab sie sich die Schuld am Mord an ihren Eltern und an ihrer eigenen Entführung. Eine solche Denkweise ergab zwar keinen Sinn, aber Schuld war auch selten ein rationales Gefühl.
Er dachte an Terrence und Carolyn, die bald eintreffen würden, und fragte sich, ob es tatsächlich eine Verbindung zwischen den Sealys und dem Mord an einem Kind geben konnte. Wenn ja, wer war dann dieses kleine Mädchen gewesen?
An der Tür zu Olivias Zimmer angekommen, verdrängte er diese düsteren Gedanken. Sie brauchte seine positive Unterstützung, nicht noch mehr Probleme. Doch als er eintrat, wurde ihm klar, dass sie selbst auch keinen guten Tag hatte.
Olivia zitterte am ganzen Körper, so heftig schluchzte sie. Sie bekam nichts davon mit, dass ihr Großvater ins Zimmer kam. Erst als sie seine Stimme hörte, sah sie auf.
“Olivia, Darling! Was ist los? Ist etwas passiert?”
Sie versuchte, sich zusammenzureißen, aber dafür war es längst zu spät. “Ach, Grampy … es ist alles so schrecklich.”
Sanft zog Marcus sie vom Stuhl hoch und drückte sie an sich. “Ich weiß, mein Darling, ich weiß. Aber alles wird wieder besser werden.”
“Aber ich weiß nicht, wie ich das alles aushalten soll. Jedes Mal, wenn jemand ins Zimmer kommt, den ich nicht kenne, frage ich mich, was derjenige von mir denkt. Jemand wollte mich umbringen, und dann ist da noch das arme Baby. Letzte Nacht habe ich geträumt, ich bin in dem Koffer, und ich weine und weine, aber niemand kommt, um mich zu retten.”
Marcus stöhnte leise auf. “Oh, Sweetheart, das ist alles viel zu viel für dich. Du weißt, du warst nicht in diesem Koffer. Und ich hätte alles gegeben, wenn dieser Verrückte nicht hinter dir, sondern hinter mehr her gewesen wäre. Ich wünschte, ich könnte dir beweisen, dass du meine Enkelin bist. Aber ich kann dir nur immer und immer wieder sagen, was ich glaube. Du bist meine Enkelin. Du hast an nichts Schuld, und du bist das Opfer gewesen. Morgen bringe ich dich zurück nach Hause, wo du hingehörst.”
“Ich möchte jetzt gehen”, erklärte Olivia. “Ich will hier nicht noch eine Nacht verbringen. Hier habe ich Angst, die Augen zuzumachen, weil wieder ein Verrückter hereinkommen könnte, der das zu Ende führt, was der andere Mann nicht geschafft hat.”
“Ich werde mit dem Arzt reden”, versprach er ihr. “Wenn er dich noch nicht entlassen will, dann werde ich einen Wachdienst beauftragen, damit niemand hereinkommt, der hier nichts zu suchen hat.”
Olivia drückte sich an ihren Großvater und weinte noch immer ungehemmt, als Trey ins Zimmer kam.
Seit er die Auswertung der DNS-Proben erhalten hatte, war ihm unwohl bei dem Gedanken, Olivia zu besuchen. Anstatt für Klarheit zu sorgen, hatten die Ergebnisse die Verwirrung nur noch größer werden lassen. Als er im Haus der Sealys anrief, um mit Marcus zu sprechen, erfuhr er, dass der bereits auf dem Weg ins Krankenhaus war. So sehr Trey sich innerlich auch sträubte, den beiden gegenüberzutreten, war er doch dankbar dafür, den Sachverhalt nur einmal erklären zu müssen.
Sofort war er zum Krankenhaus gefahren. Am Abend zuvor hatte er Olivia noch
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