Wie es Euch gefaellt, Mylady
nackter Mann.“
„Aber nicht irgendein nackter Mann, Lady Lyons“, meldete ein blasses Mädchen mit Brille sich zu Wort. „Es ist Ihr Bruder.“
„Wie? Mein…“ Emma starrte fassungslos auf die Zeichnung in ihren Händen. „Gütiger Himmel… Gott steh mir bei… mein Riechsalz … einen Stuhl. Ich habe einen Schwächeanfall. Es ist Heath.“
Charlotte schob Emma einen Stuhl unter. „Setz dich, Tante Emma, und atme tief durch.“
Das schändliche Blatt flatterte zu Boden. Das Mädchen mit der Brille bückte sich und hob es schleunigst auf. „Ich wollte immer schon wissen, wie er aussieht. Gilt er nicht als der einzig solide und ehrbare Mann in der Familie, Lady Lyons?“
Charlotte äugte über ihre Schulter und schüttelte den Kopf. „Jetzt wohl nicht mehr.“
Zwei Stunden später betrat Lord Devon Boscastle federnden Schrittes seinen Club an der St. James‘ Street und steuerte zielstrebig auf eine Gruppe junger Herren zu, die sich an einem der hohen Rundbogenfenster mit gedämpften Stimmen unterhielten und gelegentlich boshaft auflachten.
„Was führt ihr heute wieder im Schilde?“, fragte er gelangweilt.
„Hast du es schon gesehen?“, fragte einer seiner Freunde spöttisch, der in einem tiefen Ledersessel die langen Beine von sich streckte.
„Habe ich was gesehen?“
„Das Pamphlet, das in der ganzen Stadt verteilt wird“, antwortete ein anderer feixend.
Devon wurde von einer unangenehmen Vorahnung beschlichen. In seiner Familie kursierte ein Sprichwort. Wo Rauch aufsteigt, ist meist ein Boscastle in der Nähe. Wo Rauch aufstieg und von einem Skandal die Rede war, war tatsächlich stets damit zu rechnen, dass ein Mitglied der Familie mittendrin steckte. „Ist es nicht etwas früh am Tag, um politische Streitschriften zu lesen?“
„Es handelt sich um deinen Bruder, mein Lieber“, verkündete ein Dritter hämisch grinsend.
Devons erster Gedanke galt Drake. Grayson war verheiratet und für Skandale so gut wie gestorben. Devon selbst hatte seit annähernd drei Wochen keinen Ärger mehr gehabt. Und Heath, der Heimlichtuer, verhielt sich in allem, was er tat, ausgesprochen diskret.
„Was hat er denn getan?“, fragte Devon und trat in den Halbkreis.
„Ich würde eher sagen, man hat ihm etwas angetan. Das ist doch Heath, oder irre ich mich?“
Jemand hielt ihm das Blatt vor die Nase. Devon bekam vor Verblüffung große Augen. Ja, das war unverkennbar Heath, so wie Gott ihn geschaffen hatte und wie ihn nur wenige, vorwiegend Vertreterinnen des schwachen Geschlechts, zu Gesicht bekommen hatten. Er stand breitbeinig in Siegerpose vor einer griechischen Tempelsäule in seiner ganzen nackten Pracht mit dem größten …“
„Soll das ein Pfeil sein?“, fragte Devon laut und verschluckte sich beinahe vor Lachen. „Wer zum Teufel tut ihm das an?“
„Wer wohl? Die verruchte Lady Whitby natürlich. Sieh nur, sie hat ihr Werk sogar signiert. Vermutlich hat sie nicht im Traum daran gedacht, es könne in falsche Hände gelangen. Wie rasch werden die Mächtigen unter uns doch zu Fall gebracht. Noch dazu von einer Frau. Ob Russell einen Herzanfall erleidet, wenn er Heath so sieht?“
Devon studierte die Karikatur mit einem schiefen Lächeln. „Heath bekommt jedenfalls einen Tobsuchtsanfall, wenn er das sieht.“
In der nächsten Ausgabe des Morning Chronicle stand zu lesen, Lord Heath Boscastle sei mit der berüchtigten Witwe Lady Whitby, die in Indien einen britischen Soldaten angeschossen hatte, überstürzt nach Gretna Green abgereist, um Hals über Kopf die Ehe zu schließen. Der Artikel erwähnte nicht, dass sie vor Jahren auf besagten Lord Boscastle geschossen hatte. Aber es hieß weiterhin, sie erwarte ein Kind von ihm.
Ein Artikel in der Times behauptete, das skandalumwitterte Paar sei nach Frankreich geflohen. Der Korrespondent wusste weiterhin zu berichten, die berühmtesten Porträtmaler der Londoner Gesellschaft verzeichneten plötzlich eine starke Nachfrage ihrer Klientel, als griechische Gottheiten dargestellt zu werden.
Sir Russell Althorne las beide Artikel mit versteinerter Miene im Schlafzimmer seiner Mätresse. Er hielt sich seit einer knappen Stunde wieder in London auf. Kaum war er nach der stürmischen Begrüßung wieder zu Atem gekommen, als ihm seine Mätresse, die tatsächlich ein Kind erwartete, die Karikatur und die Zeitungsartikel präsentierte.
Russell sprang wutentbrannt aus dem Bett. Er war erschöpft von seiner enttäuschenden Mission in Frankreich
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