Wie funktioniert die Welt?
Jahre alte, überkommene Weisheit neu überdenken. Damit soll nicht gesagt sein, dass nicht auch die Erklärung mit begrifflichen Metaphern ihre Schwächen hat oder dass mit ihr für die Untersuchung von Metaphern das letzte Wort gesprochen wäre. Aber es ist eine Erklärung, die einen langen Schatten wirft. Gewissermaßen.
Jon Kleinberg
Das Taubenprinzip
Tisch University Professor für Informatik, Cornell University; Coautor (mit David Easley) von Networks, Crowds and Markets: Reasoning About a Highly Connected World
Manche Tatsachen in der Mathematik erwecken den Eindruck, als würden sie eine Art komprimierte Kraft enthalten: Wenn man ihnen zum ersten Mal begegnet, wirken sie harmlos und sanftmütig, aber wenn man sie dann in Aktion beobachtet, sind sie atemberaubend. Eines der überzeugendsten Beispiele ist das Taubenprinzip.
Das Taubenprinzip besagt Folgendes: Angenommen, auf einer Gruppe von Bäumen landet ein Taubenschwarm, wobei es mehr Tauben als Bäume sind. Nachdem alle Tauben gelandet sind, sitzt auf mindestens einem Baum mehr als eine Taube.
Das hört sich naheliegend an, was es ja auch ist: Es sind einfach zu viele Tauben, so dass nicht jede ihren eigenen Baum bekommt. Wäre die Geschichte damit zu Ende, so wäre überhaupt nicht klar, warum diese Tatsache eine Erwähnung oder unsere Aufmerksamkeit verdient hätte. Um jedoch das Taubenprinzip richtig einschätzen zu können, müssen wir uns einige Dinge ansehen, die man damit tun kann.
Betrachten wir also als Nächstes eine Tatsache, die nicht annähernd so einfach wirkt. Die Aussage selbst ist faszinierend, noch faszinierender ist aber, auf welche mühelose Weise sie sich aus dem Taubenprinzip ergibt. Die Tatsachen: Irgendwann in den letzten 4000 Jahren gab es in Ihrem Stammbaum zwei Personen – nennen wir sie A und B – mit folgender Eigenschaft: A war ein Vorfahr von Bs Mutter und auch von Bs Vater. Der Stammbaum hat also eine Schleife – zwei Äste, die von B nach oben in die Vergangenheit wachsen, vereinigen sich bei A wieder; oder mit anderen Worten: Unter Ihren Vorfahren gibt es Eltern, die über den gemeinsamen Vorfahren A, der vor relativ kurzer Zeit lebte, blutsverwandt sind.
Hier lohnt es sich, einige Dinge zu erwähnen. Erstens sind mit dem »Sie« im vorangegangenen Abschnitt wirklich Sie, der Leser, gemeint. Es gehört zu den interessanten Aspekten dieser Tatsache, dass ich solche Behauptungen über Sie und Ihre Vorfahren aufstellen kann, obwohl ich Sie nicht einmal kenne. Und zweitens beruht die Aussage nicht auf irgendwelchen Annahmen über die Evolution der Menschheit oder den geographischen Verlauf der Menschheitsgeschichte. Im Einzelnen brauche ich nur folgende Annahmen:
Jeder hat zwei biologische Eltern.
Niemand bekommt mit über 100 Jahren Kinder.
Die Menschheit ist mindestens 4000 Jahre alt.
In den letzten 4000 Jahren haben höchstens eine Billion Menschen gelebt. (In Wirklichkeit liegt die Schätzung der Wissenschaftler bei rund 100 Milliarden Menschen für die gesamte Menschheitsgeschichte; ich gehe von einer Billion aus, um auf der sicheren Seite zu sein.)
Alle vier Annahmen habe ich so gestaltet, dass sie möglichst wenig umstritten sind; aber auch einige Ausnahmen von den ersten beiden Annahmen und eine noch höhere Schätzung in der vierten würden nur einige kleine Veränderungen der Argumentation notwendig machen.
Nun zurück zu Ihnen und Ihren Vorfahren. Wir beginnen damit, dass wir Ihren Stammbaum über 40 Generationen in die Vergangenheit aufbauen: Sie, Ihre Eltern, deren Eltern, und so weiter, 40 Schritte in die Vergangenheit. Da jede Generation höchstens 100 Jahre dauert, haben die letzten 40 Generationen Ihrer Familie alle innerhalb der letzten 4000 Jahre gelebt. (In Wirklichkeit waren es mit ziemlicher Sicherheit nur 1000 oder 1200 Jahre, aber wie gesagt: Wir wollen möglichst unumstrittene Aussagen machen.)
Den Stammbaum Ihrer Familie können wir als eine Art »Organigramm« zeichnen und darin Positionen oder Rollen eintragen, die von den Menschen wahrgenommen werden. Jemand muss Ihre Mutter sein, jemand muss Ihr Vater sein, jemand muss der Vater Ihrer Mutter sein und so weiter zurück im Stammbaum. Jede dieser Funktionen bezeichnen wir als »Vorfahrenrolle« – es ist eine Position, die unter Ihren Vorfahren existiert, und wir können über die Rolle unabhängig davon reden, wer sie tatsächlich ausgefüllt hat. Die erste vergangene Generation in Ihrem Familienstammbaum enthält zwei
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