Wie funktioniert die Welt?
sich von dem Gedankengebäude selber unterscheiden. Ein Programm kann Ergebnisse ausdrucken lassen, Graphiken anfertigen, Geräusche erzeugen, Maschinenteile in Bewegung setzen. Die Zauberkunst aus Mythos und Legende ist zu unserer Zeit Wirklichkeit geworden.
Aber diese Magie hat auch ihre Kehrseite:
Bei vielen kreativen Aktivitäten erweist sich das zu bearbeitende Material als wenig formbar. Holz splittert, Farbe verschmiert, falsch gelegte elektrische Leitungen schließen kurz. Die physikalischen Grenzen des Materials schränken also die Zahl der möglichen Ideen ein, wie sie auch bei ihrer Realisierung unerwartete Schwierigkeiten schaffen können.
… Computerprogrammierer allerdings arbeiten in einem ausgesprochen formbaren Medium. Der Programmierer geht von einem reinen Gedankengebäude aus: von Konzepten und sehr flexiblen Repräsentationen ebendieser Konzepte. Aufgrund der Formbarkeit unseres »Materials« erwarten wir nur wenige Probleme bei der Implementierung – wieder dieser alles durchdringende Optimismus. Weil unsere Ideen aber mit Mängeln behaftet sind, kann auch ihre Realisierung nicht fehlerfrei sein. Folglich ist unser Optimismus nicht gerechtfertigt. [34]
Genau wie es eine willkürlich große Zahl von Möglichkeiten gibt, die Wörter in einem Aufsatz anzuordnen, so kann man auch eine atemberaubende Vielfalt verschiedener Programme schreiben, die die gleiche Funktion erfüllen. Das Universum der Möglichkeiten ist so weitläufig, so uneingeschränkt, dass es die Beseitigung von Fehlern nicht erlaubt.
Es gibt auch weitere überzeugende Gründe für Programmierfehler; am wichtigsten ist die Verbindung selbstständig interagierender, unabhängiger Systeme mit unvorhersehbarem Input, die häufig von noch unberechenbareren Tätigkeiten der Menschen in einem weltweiten Netzwerk angetrieben werden. Die schöne Erklärung ist nach meiner Überzeugung aber die über den entfesselten Stoff des Denkens.
Hans-Ulrich Obrist
Käfigmuster
Kurator, Serpentine Gallery, London; Autor von Ai Weiwei spricht: Interwiews mit Hans Ulrich Obrist; Coautor (mit Rem Koolhaas) von Project Japan: Metabolism Talks ; Herausgeber von A Brief History of Curating
In der Kunst ist der Titel eines Werks häufig seine erste Erklärung. In diesem Zusammenhang denke ich insbesondere an die Titel von Gerhard Richter. Als ich ihn 2006 in seinem Kölner Atelier besuchte, hatte er gerade eine Gruppe von sechs zusammengehörigen, abstrakten Gemälden fertiggestellt und ihnen den Titel
Cage
gegeben.
Zwischen Richters Gemälden und den Kompositionen von John Cage gibt es viele Zusammenhänge. In einem Buch über die
Cage
-Serie verfolgte Robert Storr sie von einer Cage-Performance auf dem Festum Fluxorum Fluxus in Düsseldorf 1963 , bei der Richter anwesend war, bis zu Analogien in den künstlerischen Prozessen. Cage verwendete in seinen Kompositionen häufig Zufallsverfahren, insbesondere unter Benutzung des I Ging. Richter lässt in seinen abstrakten Gemälden häufig ebenfalls absichtlich Zufallseffekte zu. Bei diesen Gemälden trägt er die Ölfarbe mit einem großen Gummiwischer auf die Leinwand auf. Er wählt die Farben auf dem Gummiwischer aus, welche Spur die Farbe aber letztlich auf der Leinwand hinterlässt, ist zu einem großen Teil vom Zufall abhängig. Das Ergebnis bildet dann die Grundlage, auf der Richter entscheidet, wie es mit der nächsten Schicht weitergehen soll. In dieser Einbeziehung des »kontrollierten Zufalls« kann man eine künstlerische Ähnlichkeit zwischen Cage und Richter finden. Neben der Reverenz an John Cage ermöglicht Richters Titel
Cage
auch eine visuelle Assoziation: Die sechs Gemälde wirken verschlossen und fast undurchdringlich. Der Titel weist auf unterschiedliche Bedeutungsaspekte hin.
Analogien zu Cage findet man nicht nur in Richters abstrakten Gemälden, sondern auch in anderen Werken. Mein Lieblingsbuch aus dem Jahr 2011 ist sein Werk
Patterns
. Es zeigt ein Experiment von Richter: Er nahm ein Bild seines
Abstract Painting [ CR : 724 – 4 ]
und zerlegte es in senkrechte Streifen – erst in 2 , dann 4 , 8 , 16 , 32 , 64 , 128 , 256 , 512 , 1024 , 2048 und zuletzt 4096 Streifen. Mit dieser Methode gelangte er insgesamt zu 8190 Streifen. Während des gesamten Vorganges werden die Streifen immer schmaler. Im weiteren Verlauf des Experiments werden die Streifen gespiegelt und wiederholen sich, was zu vielfältigen Mustern führt. Das Ergebnis sind 221 Muster, die auf 246 doppelseitigen
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