Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
wir das gern. Schon vom Sandweg hinter dem letzten grauen Gutshaus des Dorfes sahen wir die achteckige Silhouette der geheimnisvollen Kirche vor den Hügeln liegen. Je näher wir kamen, desto schöner wirkte dieser einsam dort stehende harmonische Bau mit seinem Glockenturm und dem frei stehenden Arkadenumgang drumherum.
Haben die Templer sie einst gebaut oder ist es eine Totenkirche für Pilger gewesen, wie Grabfunde unter den Arkaden vermuten lassen? Was auch immer einst ihre Bestimmung gewesen ist, noch heute ist sie ein mystischer Ort. Beim Betreten des schlichten Raumes wurde ich ganz still, denn er erscheint vollkommen, heilig, erhaben. Er rührte mich zutiefst an. Und aus dieser Tiefe kamen Tränen, und ich weinte lange und spürte meine verschüttete Traurigkeit, hatte Angst, dass mein Tränenfluss unendlich sein könnte, fühlte mich erschöpft und dennoch geborgen. Und dann folgte ich einem Impuls und ging durch den Raum, bis mich ein Platz unter dem Mittelkreuz der Kuppel festhielt. Da blieb ich stehen und fühlte mich, als würde alle Kraft aus mir gezogen, wurde gleichzeitig durchströmt und war nur noch ein kleines, schwaches Teil des großen Ganzen — der Welt entrückt und Gott ganz nah.
Als eine Busladung Touristen die Stille durchbrach, verließen wir den Raum, saßen noch lange tiefbewegt draußen in den Arkaden und versuchten, unsere Empfindungen zu deuten.
Schade, dass wir weitergehen mussten und nicht in der kleinen privaten Herberge neben der Kirche bleiben konnten, aber der Sack mit unseren Habseligkeiten wartete auf uns. Hier in Puente la Reina, dem berühmten Ort, an dem sich der aragonesische Weg vom Somport-Pass im Osten der Pyrenäen mit dem navarrischen Weg, auf dem wir gekommen waren, seit tausend Jahren zu einem vereinigt: dem Camino Francés.
Kaum ein Name ist für mich so eng mit dem Jakobsweg verknüpft wie Puente la Reina — Brücke der Königin. Ein Foto der fünfbogigen Brücke über den Río Arga, von einer navarrischen Königin im 11. Jahrhundert für die Pilger gebaut, ist auf dem Titel unseres Reiseführers abgebildet und hat meine Phantasie seit dem ersten Moment der Planung beschäftigt. Wie würde es hier aussehen, wie es sich anfühlen?
Listige Politik hatte zur Gründung des Ortes geführt, denn nur von einer hohen Bevölkerungsdichte versprachen sich die aragonesischen Könige Erfolg bei der Reconquista, der Abwehr der Mauren, die seit Jahrhunderten einen großen Teil Spaniens besetzt hielten. Da kamen die Pilgerströme aus ganz Europa gerade recht. Straßen- und Brückenbau brachten mehr und mehr Menschen dazu, statt der alten Küstenstrecke den neu entstehenden Weg zu nutzen. Anreize zum Siedeln und Sonderrechte ließen etliche bleiben. Städte wie diese wurden gegründet, Kirchen, Klöster und Herbergen gebaut, und noch heute führt der alte Pilgerweg schnurgerade durch den Ort, der an ihm errichtet wurde.
Doch noch waren wir nicht da, wir mussten noch einige Kilometer wandern und das 1000 Jahre alte Obanos durchqueren, ein steinernes Dorf mit einer dreischiffigen gotischen Hallenkirche am riesigen Hauptplatz, auf dem regelmäßig unter Beteiligung der Bürger ein mit dem ]akobsweg verknüpftes mittelalterliches Mysterienspiel um den Herzog von Aquitanien und seine Schwester aufgeführt wird:
Prinzessin Felicia wollte nach der Rückkehr von einer Pilgerfahrt nach Santiago ihr Leben den Armen widmen, aber ihre Familie missbilligte den Plan und ihr eigener Bruder Herzog Guillén tötete sie wegen ihres Ungehorsams. Doch er bereute bald seine Tat, pilgerte zur Sühne selbst zum Apostelgrab und zog sich danach in eine Einsiedelei auf einen Berg bei Obanos zurück.
Da drüben, auf der anderen Talseite steht die Ruine seines Hauses.
Wir blieben ein Weilchen in der Nachmittagssonne auf dem Platz vor der Kirche sitzen, sahen hinüber und tranken frisches Brunnenwasser. Harmlose, träge Hunde beschnupperten uns, Kinder spielten im Park. Kein Lärm, keine Hektik. Waren wir noch in der Realität?
Ja. Die letzten Kilometer mussten wir der Schnellstraße folgen, und das wurde bitter. Hitze, Gestank, Lärm und die Unsicherheit, wo wir die Herberge finden würden, strengten uns noch einmal an. Erst als wir in die historischen Gassen von Puente la Reina einbogen und die fröhliche Stimmung bei der ersten Pilgerherberge wahrnahmen, begannen wir zu realisieren, dass wir den langen Weg hinter uns hatten. Am Brunnen in der Gasse wurden Wäsche gewaschen und Fahrräder
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