Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
schlafen zu gehen, und als der alte Hospitalero mich vor der Treppe anspricht, bleibe ich gern noch bei ihm, um mir aus dem Besucherbuch vorlesen zu lassen und Geschichten über seine Erlebnisse zu hören. Von unzufriedenen Meckerern und vielen dankbaren, freundlichen Pilgern, und von dem Japaner mit den kurzen Beinen und seinem 26-Kilo-Rucksack, hinter dem er kaum zu sehen war. „26 Kilo? Das glaub ich nicht, was hat der denn mit sich rumgetragen, um auf so ein Gewicht zu kommen?“ „Oh, zum Beispiel mehrere dicke Wörterbücher. Japanisch-Spanisch, Japanisch-Französisch, Englisch-Spanisch. So, und jetzt geh schlafen. Der Tag war lang für dich und ich brauche auch Ruhe. Morgen früh fahren mein Freund und ich zurück in die Schweiz. Die drei Wochen hier waren eine interessante Abwechslung in meinem Rentnerdasein, nur manchmal war es zu heiß. 40 Grad sind für einen Zweiundsiebzigjährigen zu viel. — Bevor wir fahren stellen wir euch Frühstück hin, ab fünf Uhr dreißig. Gute Nacht.“
„Gute Nacht.“ Und danke, ihr lieben alten Kerle.
Flucht
Belorado — San Juan de Ortega > 25 km
Am nächsten Morgen stand tatsächlich gekochter Kaffee auf dem Herd neben Marmeladengläsern und einem Brotsack! Ich war entzückt, weil ich es liebe versorgt zu werden. Und dann fand ich im ,Nimm-mit/lass-hier-Korb’ eine Packung Fußpuder und beschloss, mit dem Hirschtalgschmieren aufzuhören und auf Pudern umzusteigen, weil meine Füße mittlerweile stanken. Alles war perfekt. Nur meine Unzufriedenheit über die ständig erforderlichen Kompromisse war nicht mehr ganz zu unterdrücken.
Unversehens hat ein Tag der kleinen Veränderungen begonnen, denn wir sind schon vor halb acht auf der Straße. In der Morgenkälte. Ja, heute ist es nicht nur kühl, sondern kalt, und ich ziehe mal wieder Sweatshirt und Jacke an, freue mich über den leichten Rucksack und den schönen Morgen. Leider nicht lange, denn an der übernächsten Ecke irrt eine deutsche Frau umher, die sich auf uns stürzt und aufgeregt nach dem Weg fragt. „Wo sind die gelben Pfeile? Wisst ihr, wo es hier aus der Stadt geht?“ Natürlich nehmen wir sie mit, aber bereuen es schnell, weil ihre Hektik und ihr Geschwätz nerven. Wir werden unter einem Vorwand langsam, lassen sie vorgehen und genießen erleichtert die Ruhe. Just da geht hinter uns die Sonne strahlend auf, und ich bleibe glücklich stehen und freue mich meines Lebens. Dass Majas Beine schmerzen, tut mir zwar Leid, doch mittlerweile kann ich besser bei mir bleiben.
Es sind viele Pilger unterwegs und in einem klitzekleinen Dorf ist allgemeine Rast. Die Gassen sind wie ausgestorben, kein Auto fährt, nichts regt sich, außer zwei alten Leutchen in ihrem Stubenladen, die uns Café kochen. Wir trinken ihn zwischen bunten Gestalten und Rucksäcken, auf Mäuerchen sitzend, zwischen Blumengärten vor der weiten Aussicht auf die Ausläufer der Sierra de la Demanda. Es ist grüner hier, und statt Feldern gibt es Wiesen, Schafe, viele Bäche und Bäume.
Mir geht mein Traum von heute Nacht durch den Kopf, ein ,Babytraum’, wie schon häufig in den letzten Jahren:
Unsere Kinder sind verschleppt oder entführt worden, aber nach viel Mühe sie zu finden, können wir uns freuen, weil sie zurückkommen. Doch nur das Mädchen und der Junge, beide halbwüchsig. Wo ist aber das Baby? Ist es an den Strapazen gestorben? Nach einiger Zeit der Aufregung und des Forschens kommt die erlösende Nachricht, dass es lebt und von guten Menschen aufgenommen worden ist. Es soll auch dort in Obhut bleiben und kommt nicht wieder zu uns zurück.
In einigen vorhergehenden, ähnlichen Träumen stand das Baby für meine Beziehung zu Max. Doch was hat dieser Traum zu bedeuten? Ich begreife den Sinn nicht und verschiebe das Denken, weil wir jetzt auf der Hauptverkehrsstraße nach Villafranca Montes de Oca überleben müssen. Lastwagen rasen in dichter Folge an uns vorbei, wir quetschen uns auf den Seitenstreifen, und ich hasse den Ort schon, bevor wir ihn erreichen. Er wird durch die Straße zerschnitten, ist laut und dreckig und war doch früher mal ein berühmter Pilgerort. Aber das war noch in den alten Zeiten, bevor der Heilige Juan de Ortega den Weg über die 1150 Meter hohe Passhöhe Puerto de la Pedraja gangbar gemacht hatte, und die Pilger hier noch einmal Kräfte sammelten, bevor sie sich Gefahren durch Räuber und Bären aussetzen mussten.
Die Berge beginnen gleich hinter der monumentalen Kirche, in deren Schatten wir
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