Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
sahen sie, dass er noch lebte; Sankt Jakobus hatte ihn gestützt. Man lief zum Richter, um ihm die Kunde zu bringen, doch der rief ungläubig aus, dass der Junge genauso lebendig wäre wie der gebratene Hahn und das gebratene Huhn auf dem Teller vor ihm. Da flogen Hahn und Henne auf, der Junge wurde vom Galgen genommen, freigesprochen und konnte die Pilgerreise mit seinen Eltern fortsetzen.
In ganz Europa sind in Kirchen Zeugnisse dieser Legende zu finden, und hier sollen in einem Stall in der Kathedrale ein weißes Huhn und ein weißer Hahn leben.
Bevor wir uns diese Kuriosität ansehen, wollen wir Tee trinken, zwischen deutschen Wanderern am Refektoriumstisch. Die tauschen sich gerade aus, welche Unzahl von Kilometern jeder von ihnen täglich geht, in wie kurzer Zeit jeder in Santiago sein will. Alles dreht sich um Leistung und Tagespläne, selbst das erschöpfte junge Mädchen, das seine Dehnübungen auf dem Fußboden macht, ist heute 40 Kilometer gegangen und findet es nicht besonders viel, obwohl sie völlig kaputt ist. Wo sind wir hier gelandet? Sollen sie alle prahlen, wir brechen auf, lassen uns von einer Menschenmenge Richtung Kathedrale schieben, treten gespannt durch die schweren Türen — und tatsächlich, in die Kirchenwand ist ein verzierter Glaskäfig eingelassen. Ein lebendiges weißes Huhn läuft darin herum und ein weißer Hahn beginnt zu krähen und kräht und kräht. „Das bringt Glück“, lacht mir ein fremdes Gesicht zu. Ja, ich fühl mich schon jetzt glücklich und mir gefällt, dass der Heilige Domingo in seinem Mausoleum gegenüber dem Hühnerstall in so heiterer Atmosphäre seinen ewigen Schlaf halten kann. Er ist der Namenspatron des Ortes, hat vor 1000 Jahren als Eremit und Mönch die Not der Pilger zum Anlass genommen, Sümpfe trockenzulegen und Wege gangbar zu machen; hat Brücken gebaut und Herbergen. Er war ein so guter Mensch, dass man ihn heilig gesprochen, und zu seinen Ehren diese Kathedrale mit seinem prächtig verzierten Grabmal errichtet hat. Während ich es interessiert betrachte, wird es im Kirchenraum unruhig.
Ein Leichenwagen hat einen Sarg in die offene Kirchentür gebracht, und ein Priester beginnt zwischen trauernden Hinterbliebenen und uns Touristen die Aussegnung einer Verstorbenen. Ganz selbstverständlich. Wir stehen irritiert dabei und geben einer uns völlig unbekannten Toten die letzte Ehre.
Schon in der nächsten Gasse hat uns das Leben wieder. Hier herrschen lautes Treiben, Gedränge und Geschäftigkeit, weil viele Menschen aus der Umgebung den Samstagnachmittag zum Einkaufen nutzen. Die Tische der Straßencafés sind voll, Jung und Alt promenieren, wimmeln in Läden, in denen es wie im Schlaraffenland aussieht. Alle Spezialitäten der Region scheinen hier aufgetürmt zu sein: Spargel- und Pimientokonserven, frische und getrocknete Früchte, Weine, Käse, viele Sorten Gemüse, Fleisch und Trockenfisch. Wir drängen uns dazwischen, wollen nur schauen und schnuppern, können aber nicht widerstehen und kaufen Nüsse und allerlei für unser Abendbrot im Herbergsgarten.
Dort herrscht Ruhe, dort gibt es einen Stall mit weißen Auswechselhühnern und zu unserer Überraschung eine ungemütliche Halle mit dutzenden von Liegen in langer Reihe — den Schlafsaal unserer Herberge. Wir haben schon wieder Glück und gehören zu den Privilegierten...
Renata und Peter sitzen am Gartentisch beim Essen, und bei ihnen ein alter Spanier in einem löchrigen Hemd und viel zu großen Socken, der sich gerade über einen geschenkten Teller Makkaroni hermacht. Hab ich den nicht eben vor der Kathedrale betteln gesehen? „Ich bin auf dem Weg zurück von Santiago...“ — „Wohin?“ Er zuckt die Schultern, „... das dritte Mal“. — „Lebst Du auf dem Camino?“ — „Si.“ Nach einem geschnorrten Glas Wein lächelt er uns zahnlos an und verschwindet in die Schlafhalle.
Schön, bekannte und unbekannte Menschen zu treffen, unsere Runde wird immer größer, alle sprechen Deutsch, sogar Thomas, ein Japaner, der in Rostock studiert. Hans und Tim, zwei Mittfünfziger, laden uns zum Wein ein, möchten mit uns ihren heutigen zweitausendsten Kilometer feiern. Seit zweieinhalb Monaten sind sie von Ansbach unterwegs, durch die Schweiz und Frankreich. Staunend höre ich zu und kann meine Neugier nicht zurückhalten: „Was hat euch dazu gebracht, so weit zu gehen?“ Hans lächelt. „Ich war in einer Lebenskrise, wusste, dass ich pilgern muss und war nach drei Tagen reisefertig.“
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