Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
von der schon wieder aufgekommenen Hitze verschnaufen. Irgendwas hakt zwischen Maja und mir. Sie möchte eigentlich nicht weiter, was mir nach zwölf Kilometern am Morgen völlig indiskutabel erscheint. Und jetzt kommt auch noch die Nervensäge von vorhin und fragt, wo hier die Herberge ist! Maja und sie suchen, überlegen, plappern und fragen jetzt gemeinsam irgendwelche Leute nach einer Unterkunft. In mir steigt langsam, aber ganz massiv Widerwillen auf.
Nicht mit mir. Ich will hier nicht bleiben, will nicht, will nicht!
Ich werde allein weitergehen und trau mich, es Maja zu sagen. Nach kurzem Zögern. Fest entschlossen. „Ich werde jetzt weitergehen und du kannst morgen in Ruhe nachkommen. Wir werden uns in der Herberge in Atapuerca treffen, 19 Kilometer von hier. Das ist der Ort mit den prähistorischen Höhlen, die ich mir gern ansehen möchte.“ Und sie sagt: „Ja, das ist in Ordnung“, und ich lasse sie und das schreckliche Weib zurück, haue ab, und zwar schnellstens, obwohl ich zur Bäckerei hätte zurückgehen müssen, um mir Brot zu kaufen. Egal, rauf auf die Holperpfade, hoch in den Wald.
Und dann habe ich einen wunderschönen Tag und fühl mich frei, gehe in meinem Tempo und bin völlig happy. Endlich allein! Auf Schneisen zwischen Kiefern und Wacholder laufe ich zum Pass hinauf, vorbei an Lichtungen voll Heidekraut, Zistrosen und Lavendel, pflücke mir Zweiglein zum Schnuppern und genieße mein Dasein, mein Alleinsein. An einer gemauerten Quelle kühle ich mich ab, trinke und treffe Felicia, das 40-Kilometer-Mädchen aus Santo Domingo, heute von Durchfall geschwächt schleichend und ohne Leistungsvorgabe. Auf einer Bank sitzt der Don-Quijote-Holländer mit einer jungen Frau, deren kaputte Füße uns vor einigen Tagen schockiert haben, jetzt trägt sie nur noch Sandalen über Verbänden. Eine Gruppe blinder Menschen tastet sich mit langen Stöcken unter Führung über die unebenen Wege. Zwei Franzosen grüßen mich, ich kenne sie aus Viana. Heut sind sie in Begleitung junger Mädchen, mit denen sie lachen und singen.
Und ich genieße alles. Allein. Unter Eichen raste ich, lasse meine Füße abkühlen, esse, was ich noch im Rucksack finde, die Notration Studentenfutter und Nüsse, bin froh und leicht. Es ist sehr heiß. Ich halte mich im Schatten, singe laut und treffe einen bärtigen, etwas verwildert aussehenden Mann, der mir entgegen kommt, auf dem Rückweg von Santiago de Compostela nach Rom; ich spreche ihm meine Bewunderung aus. Dann ist der Weg noch einmal sehr steil, und danach geht es bergab und wieder durch Wald, bis plötzlich zwischen Bäumen ein Turm hervorschaut. Das muss mein Ziel San Juan de Ortega sein! Ich juchze vor Freude und bin nach einer letzten Kurve da, in einer Flussaue mit Kloster und Kirche und einigen Häusern.
Auf dem sandigen Platz vor dem Kloster hängt Wäsche und ruhen Pilger, von denen mich einer durch einen großen Torweg in die Herberge schickt; anmelden könnte ich mich später. Ich finde eine ruhige Ecke im hintersten der großen Schlafräume, dusche kalt und setze mich erfrischt vor die Bar nebenan, um mit Orangensaft und Chips meinen Hungertod aufzuschieben.
Wunderschön ist es hier, heimelig und scheinbar weltabgeschieden, obwohl ein Reisebus herumsteht. Der Fahrer wartet auf die Gruppe der blinden Wanderer, die vom rührigen Priester in der Kirche herumgeführt werden. Ich schließe mich ihnen an, bestaune die phantastischen Geschichten auf den Säulenkapitellen und das Baldachingrab des Heiligen Juan, und werde nachdenklich, weil die Nichtsehenden genau dasselbe tun wie ich.
Dann sitze ich draußen im Gras und danke Gott für den wunderschönen Nachmittag und die Kraft und Gesundheit, die mich bis hierher gebracht haben — bis mich Katharinas Ankunft überrascht. Sie ist nicht verwundert, dass sich ihre Prophezeiung bezüglich des Essens umgehend erfüllt hat: „Na klar, man muss nur dran glauben.“ Wir schwatzen und gackern, und als kurz darauf auch noch Brad und Savannah auftauchen, organisiert Katharina, die Spanisch spricht, für uns vier ein gemeinsames Abendessen. Danach kann ich mich beim Flaschenfinder revanchieren: Brad hat Schmerzen durch seine 18 Kilo auf dem Buckel, und bekommt von mir eine kräftige Massage für Schultern und Nacken. Dadurch versäumen wir zwar das obligatorische Gruppenknoblauchsuppenessen bei der Schwester des Hospitalero-Priesters, aber brauche ich heut noch mehr?
Streit
San Juan de Ortega — Atapuerca > 6,5
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