Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
Wahrscheinlich hoffen wir beide, dass sich unsere Unstimmigkeit irgendwie auflöst. Ich möchte meine Freude auf Burgos nicht durch Streit und Probleme trüben, möchte diesen Camino-Höhepunkt ungestört erleben, diese kulturreiche Stadt mit ihrer berühmten Kathedrale und unzähligen anderen Kirchen, Palästen und Klöstern aus neun Jahrhunderten. Von hier oben können wir sie schon fern am Horizont sehen, und über ihr eine grau-gelbe, schleierige Smogwolke.
Zwei Tage sollte man mindestens dort bleiben, doch wir sind schon zu sehr im Sog des Weges und werden uns nicht so viel Zeit nehmen. Wenn wir flott gehen und wenig Pausen machen, können wir die 22 Kilometer bis mittags schaffen und haben heute noch genug Zeit für die wichtigsten Sehenswürdigkeiten .
Ländlich einsam ist es, grün und fruchtbar, die Dörfer sind teilweise verlassen, doch dann folgen wieder schattenlose Felder, auf denen wir spüren, dass die Sonne heute noch stärker brennt als in den letzten Tagen. Bis wir zwischen den Mauern der Stadt Kühlung finden, vergehen Stunden auf Einfallstraßen voll Schwerlastverkehr, unterbrochen von Sprints über Autobahnzufahrten im Gestank von Abgasen und Fabrikschloten. Und diese Mischung aus Hitze, Lärm und Staub strengt an, wir schauen nicht mehr rechts oder links, wollen nur noch ankommen.
So schlecht ging es uns auf unserer Wanderung noch nie.
Als wir endlich einen Brunnen und Bänke im ersten Wohnviertel finden, sinken wir um und sind vereint im Leiden: „Ich kann nicht mehr.“ „Ich auch nicht, und ich mag auch keinen Rucksack mehr schleppen, und zum Karthäuserkloster von Miraflores rauf ist es mir jetzt zu anstrengend, auch wenn ich so gern dort hin möchte.“ Es ist bestimmt schon 30 Grad heiß, wir sind am Ende unserer Kräfte.
Aber noch lange nicht am Ende unseres Weges. Er wird zwar ruhiger, führt durch einen schattigen Park am Río Arlanzón, doch der ist kilometerlang und ich habe überhaupt keine Lust mehr zu gehen. Burgos’ Bürger joggen, reiten und spazieren um uns her, die andere Flussseite wird immer städtischer, der Verkehrslärm lauter, und in immer kürzeren Abständen queren immer befahrenere Brücken den Fluss. Aber die gelben Pfeile auf den Brückenpfosten zeigen sowohl hinüber als auch weiter geradeaus. Wir sind verunsichert, weil wir schon über eine Stunde in diesem Park sind und nicht wissen, wo der Parque del Parral ist, in dem die Herberge stehen soll.
Als der Grünzug schmaler wird und immer mehr große, alte Gebäude hinter den Bäumen auftauchen, entdecken wir endlich über den Hausdächern filigrane Türme. „Da ist die Kathedrale! Und die Altstadt! Wenn wir über die nächste Brücke gehen, finden wir bestimmt den Weg, können unsere Rucksäcke abladen und dann ganz entspannt Burgos angucken.“
Der Schock der Urbanität trifft mich völlig unvorbereitet, als wir aus der Ruhe des Parks ins Chaos eines Kreisverkehrs treten; zwischen hupende Autos und Menschengedränge an Ampeln und direkt in eine Großbaustelle — wir wissen überhaupt nicht wohin — wollen Richtung Kathedrale doch auch die nächste Gasse ist aufgerissen und gesperrt — es ist laut — alle rempeln uns an — auch dahinten steht ein Zaun — wo sind wir jetzt überhaupt — da waren eben noch die Türme — wo müssen wir denn nun lang? Irgendwo setze ich mich auf einen kleinen Platz zwischen hohe alte Häuser und heule vor Erschöpfung, fühle mich völlig hilflos und verirrt, zünde mir eine Zigarette an, obwohl ich nie so früh am Tag rauche, und Maja muss mich trösten und mir Mut machen, weiterzugehen.
Ich kann ja hier nicht sitzen bleiben, auch wenn ich es gern täte. Für immer. Hier sterben. Dann würde ich wenigstens bemitleidet.
Aber los, auf die Beine, eigentlich ist es hier ganz malerisch — da ist auch schon die Kathedrale. Wahnsinn, diese Größe, und die exponierte Lage zwischen Plätzen und Treppen! Welch ein unvergleichlich dramatisches Stilgemisch aus Romanik und Klassizismus, und ihre Türme aus filigranem Maßwerk, ihre verschiedenen Dächer mit Spitzen wie aus Zuckerguss und die verspringenden Fronten mit all den Skulpturen, ich könnte endlos staunen!
Wenn ich nur nicht so erschöpft wäre. „Lass uns unsere Rucksäcke zur Herberge bringen. Dieser junge Mann kann uns bestimmt sagen, wo sie ist.“ Ich frag ihn auf Englisch, er ist ein deutscher Student und antwortet auf Deutsch, und schickt uns wieder zum Fluss zurück: „...und dann immer weiter
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