Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
noch Zweifel, ob es mir zusteht, so egoistisch zu sein. Aber auch von ihnen wollte ich frei werden, schob die Gefühle und Gedanken beiseite, um endlich unbelastet zu sein.
Die Landstraße ist wohltuend ruhig und menschenleer, wie auch das kleine Rabé de las Calzadas im Grau der Morgendämmerung. Als die Sonne steigt und ihr Licht zwischen Häuser und Paläste sickert, erlebe ich wieder dieses tiefe Glück durch Stille und Schönheit, und meine angespannten Nerven beruhigen sich. Jetzt bin ich nur noch für mich verantwortlich. Wann in meinem Leben habe ich mich so gefühlt? Schon mit 19 Jahren war ich Mutter. Und davor? Kenne ich überhaupt das Gefühl, auf niemand Rücksicht nehmen zu müssen, nicht auch an andere zu denken? Herrlich — ich bin frei.
Und vor mir liegt die Weite der Meseta. 200 Kilometer werde ich über die kastilische Hochebene gehen und freue mich auf diese raue Landschaft. Die ersten der unendlichen Felder liegen vor mir, Hügel reiht sich an Hügel, und weit hinten, am Horizont, ragt die Kordillere auf.
Ein Eisenschild steckt in einem der vielen Steinhaufen, . Mir ist, als hätte mein Weg jetzt erst begonnen.
Es gibt wenige Menschen in den wenigen Städtchen und Dörfern aus Kalkstein und Lehmziegeln, die sich in Erosionsrinnen von Flüssen ducken. Die jungen Leute sind in die Städte gezogen, weil die Großgrundbesitzer kaum Arbeitskräfte brauchen. Und es sind auch nicht viele Pilger unterwegs. Vielleicht weil dieser Teil des Camino als eintönig verrufen ist, und manche lieber den schnellen Bus von Burgos nach León nehmen?
Mir gefällt es hier, und ich finde bald die schönste Bar des Weges in Hornillos del Camino, trinke meinen Café und esse in Ermangelung einer Alternative die schrecklich süßen Magdalenas dazu. Schauderhaft. Aber Widerstand ist zwecklos, ich muss essen, weil die Hitze an meinen Kräften zehrt und ich außer Achtsamkeit auch Kohlehydrate brauche. Seltsam, so allein hier drin zu sitzen und in die leeren Straßen zu schauen, auf denen alte Männer ihre Ziegen und Schafe an den Ruinen der ehemals berühmten Kloster- und Hospizgebäude vorbei auf die wenigen grünen Flecken außerhalb treiben. Unvorstellbar, dass im 12. Jahrhundert die Menge der christlichen Pilger, die nach Santiago gelten und wieder von dort zurückkehren, so groß war, dass sie kaum den Weg nach Westen offen ließen.
Draußen brennt die Sonne. Gut, dass ich nur mein kleines Hemdchen anhabe, jeder Zentimeter Kleidung ist zu viel. Meine Haut sieht eh schon wie Leder aus, links mehr als rechts, weil wir stets gen Westen gehen. Meine Schirmmütze hab ich mit meinem leichten Halstuch umwickelt, das ich weit ins Gesicht ziehe. So marschiere ich immer geradeaus, untrennbar verbunden mit meinem Schatten vor mir, auf dem steinigen, scheinbar endlosen Weg. In meinem Kopf kreisen Gedanken und Melodien werden zu Tönen, und ich beginne zu singen. Zuerst leise für mich und dann immer lauter. Es ist egal, was die anderen Wanderer denken könnten, doch beim Überholen grüßen sie lachend und ich fühle mich wie in einer Wolke aus Frohsinn. Ich gehe flott, weil ich Maja hinter mir lassen möchte, aber als ein Pappelwäldchen wie eine Oase neben dem Weg auftaucht, spüre ich Mattigkeit und schlage den Weg dorthin ein. Es ist schon Mittag, ich bin seit vier Stunden unterwegs, brauche eine Pause im Schatten und kann die Trennung nicht erzwingen.
Ein kleines, bunt bemaltes Haus steht am Wegrand, das muss San Bol sein, die berüchtigt kuriose Herberge, und dahinter liegt ein herrlich kühler Pappelhain, in dem eine üppige Quelle entspringt. Ein Wasserbecken staut das klare, eiskalte Wasser, in das ich meine Beine halte, bis sie zu erfrieren drohen; dann lege ich meinen Schlafsack ins Gras und mich drauf, und schaue in die Baumwipfel. Nur gelegentlich kommt ein anderer Wanderer zum Trinken oder Abkühlen, ich genieße zwei Ruhestunden, bis es mich weiterzieht.
„Huhu.“ Maja kommt als ich gehe, fröhlich winkend. Es geht ihr sehr gut, sie hat heute keine Schmerzen und genießt das Wandern. „Musste ich dich erst allein lassen, damit du dich wohl fühlst?“ Ich kann mir diese Bemerkung nicht verkneifen, die sich scherzhaft anhören soll — aber wir beide wissen, dass ich genervt bin. Sie lächelt. „Ich würde gern hier bleiben, die Etappe reicht mir, aber es gibt in diesem Haus keine Toiletten, und darum werd ich bis Hontanas weitergehen.“ Na, dann muss ich nach Castrojeriz, 10 Kilometer
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