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Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam

Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam

Titel: Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: HanneLore Hallek
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dazu, mir von seinem Leben und seinen Gefühlen zu erzählen? Von seinem Heimweh nach seinen drei Kindern und dass er seine Frau gern auf diese Wanderung mitgenommen hätte. Graham ist 50, und hat sich noch nicht daran gewöhnt, im vergoldeten Vorruhestand zu sein, obwohl er glücklich ist, erstmals Zeit für seine Kinder zu haben. „Nur noch drei Wochen, dann bin ich wieder bei ihnen.“
    Schade, dass die Hospitalera uns hinausschickt und unser Gespräch damit beendet, doch jetzt kann ich wieder zu mir zurückkommen, in die Mandelhaine hinaufsteigen und den Sonnenuntergang hinter den gegenüberliegenden Hügeln betrachten.
    Doch ich bin unruhig und fühle mich wie ein Eindringling, als gehörte ich nicht hierher. Ich bleibe nicht lange und rutsche den Hügel voller Disteln wieder hinunter. Im Bett hab ich Zeit, die Stacheln aus meinen Füßen zu ziehen.
    Schräg unter mir liegt eine Frau, die mich an meine Freundin Isolde erinnert, wir sehen uns mehrfach an, doch es fällt mir nicht ein, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Warum fällt es mir bei Männern so viel leichter?
    Die Kirche gegenüber schlägt alle Viertelstunde. Hunde bellen gelegentlich. Gespräche und lautes Lachen hallen in der schmalen Gasse vor unseren Fenstern, doch irgendwann ist es still. Auch in meinem Kopf. Und ich freue mich auf den Schlaf.

Ich bin stark
Hontanas — Castrojeriz — Boadilla del Camino > 30 km

    Heute kann ich nicht früh genug aufstehen. Bin bei den Ersten, die sich aus dem Schlafraum schleichen. Packe auf dem Treppenabsatz meine Sachen zusammen. Trinke, schon in der Jacke, einen Kakao aus dem Automaten zu meinem trockenen Brot und gehe auf die dunkle Gasse. Ich weiß, wo der Weg aus dem Ort führt und hinter der Landstraße weiterläuft, habe es mir gestern angesehen und kann jetzt im Mondlicht die Strecke leicht finden. Aufgeregt und neugierig laufe ich über den steinigen Pfad, atme die kühle Luft und fühle mich wie neugeboren. Kein schlechtes Gewissen mehr, keine Verpflichtung, niemand auf den ich warten muss. Nur ich allein im heraufdämmernden Morgen. Und als die Sonne aufgeht, ich den kleinen Fluss unter mir erkennen kann und die Terrassenfelder grün leuchten, möchte ich vor Freude schreien.
    Gut, dass ich es nicht tue, es wäre mir ein bisschen peinlich vor Graham, der mich in schneidiger Offiziershaltung im Sauseschritt überholt. „Guten Morgen, ich hoffe dass du gut geschlafen hast.“ Lieb von ihm, und wie flott er weiterläuft. Warum bin ich eigentlich so langsam? Vielleicht sollte ich ein wenig dynamischer gehen. Ich gebe mir einen Ruck, atme tiefer, richte mich auf, gehe mit größeren, festeren Schritten und spüre endlich wieder meine Energie fließen.
    Wie viel Kraft hab ich in Kompromissen und Angepasstheit gebunden?
    Ja, so fühlt sich das Gehen besser an, mit erhobenem Kopf. Ich marschiere über die Landstraße, durch die Gewölbebögen der Ruinen des Lepraklosters San Anton, und hab ein gutes Gefühl von Lebendigkeit und Power. Wie schnell ich vorwärtskomme, sehe zwischen den Chausseebäumen schon die Burgruine über Castrojeriz, und höre — wie seltsam — Musik. Und weit und breit ist nichts, woher sie kommen könnte. Nur ein älteres Paar geht vor mir. Verrückt, der Mann spielt auf einer Mundharmonika Volkslieder! Da werde ich gern wieder langsam, bleibe hinter ihnen, um zuzuhören und ein bisschen zu weinen, weil ich diese Situation so romantisch finde. Dazu passt der Anblick von Castrojeriz. Ton in Ton schmiegt es sich lang gezogen und geduckt an den kalkfarbenen Burghügel, nur die Kirchtürme ragen über die flachen, hellbraunen Dächer. Es sieht schon von Weitem idyllisch aus, und als ich die gepflasterten Gassen ohne Autos betrete, die alten Fassaden ohne Werbung und die kreisenden Adler über mir sehe, bin ich wieder in meiner Zeitmaschine. Hoffentlich finde ich in dieser scheinbaren Unwirklichkeit eine wirkliche Apotheke, mein entzündeter Zehnagel beginnt mich zu quälen. „Farmacia?“ „Ah, da unten, doch sie ist noch nicht geöffnet.“ Na, dann muss ich mit Café und Bocadillos warten, obwohl ich mich nicht aufhalten möchte. Heute ist ideales Wanderwetter, 25 Grad mit leichtem Wind und Schleierwolken.
    Danke, Frau Apothekerin, dass sie vor der Zeit geöffnet haben, um mich zu bedienen, die Pause war lang genug. Nur noch ein paar Blicke auf den Plaza Mayor und zehn Minuten auf der Pilgerstraße, dann öffnet sich hinter dem Hügel ein breites, dünn besiedeltes Tal mit Gärten und

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