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Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam

Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam

Titel: Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: HanneLore Hallek
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Einzige, die ihre erste Blase hier entdeckt, eine kleine, an der Spitze meines rechten Mittelzehs. „Ist das wirklich deine erste? Nach drei Wochen? Komm, ich mach das schon.“ Eric umwickelt mein Zehlein routiniert — und ich kann das problemlos annehmen. Das ist eine gute, neue Erfahrung für mich, die ich doch immer alles selbst können will.
    Das alte Sahagún sehe ich nur im Vorbeigehen. Schade, denn noch immer steht das mächtige Benediktinerkloster aus dem 11. Jahrhundert, umgeben von Kirchen und Ruinen ehemaliger Herbergen und Konvente. Eric drängt zur Eile, weil der Weg heute noch weit ist, und ich füge mich. Es ist hübsch, durch die Straßen zu laufen und über die Brücke des Río Cea, von der aus wir moderne, knallbunte Skulpturen auf einer Insel im Fluss entdecken, witzig und leicht nach der Backsteinenge. Auf der anderen Flussseite zeigt Eric auf einen Pappelwald: „Das ist der historische Wald der tausend Lanzen. Kennst du die Legende?
    Karl der Große zog mit seinen Rittern zu einer Schlacht gegen den Maurenfürsten Aigiolandus. Sie lagerten hier, und einige seiner Männer steckten ihre Lanzen abends senkrecht in den Boden. Am Morgen waren einige der Lanzen mit Rinde und Laub bewachsen. Es war ein Zeichen, dass ihre Träger in der kommenden Schlacht zu Märtyrern würden! Obwohl die verwurzelten Lanzen dicht über dem Boden abgeschnitten wurden, entspross der Erde dieser neue Wald.
    „Danke für die nette Geschichte Eric, aber sprichst du bitte etwas langsamer?“ Sein Wortschatz ist wesentlich größer als meiner, ich muss mich bemühen, ihn zu verstehen und mich klar auszudrücken. Er ist nicht sehr geduldig, und ich bin es nicht gewohnt Englisch zu sprechen, kann nicht immer auf den Punkt bringen, was ich meine. Doch Zuhören ist gut, und Zeit dazu habe ich genug auf 19 Kilometern Sandweg an einer kleinen, ruhigen Straße. Das Land ist eben, nur in der Ferne erheben sich Berge. Neben der Straße quaken Millionen Fröschlein in Gräben, und aus flachen Schilflagunen voll schnatternder Enten fliegen Vögel auf. Wir sind gute Wandergenossen, haben das gleiche Tempo und verstehen uns immer besser. Unsere Stimmung ist leicht und fröhlich, wir schweigen, singen und lachen, wandern immer geradeaus.
    „Kannst du dir vorstellen, auch die nächsten Tage mit mir zu gehen? Dann wäre ich sicher.“ Erics Frage überrascht mich. „Sicher wovor, Eric?“ Er zögert. „Ach, ich weiß auch nicht, vielleicht will ich nicht allein sein. Ich weiß so vieles nicht, hab viele unbeantwortete Fragen. Mir fehlt immerzu der Schlüssel zum Verstehen. Bin immer auf der Suche — aber weiß nicht, nach was.“
    Ich zucke zusammen. Er benutzt meine Worte. Auch ich fühle mich schon so lange auf der Suche und wüsste gern, wonach eigentlich. Ist es das, was uns trotz unserer Unterschiedlichkeit zueinander zieht? Sind wir Seelenverwandte? Warum sonst wären wir so schnell miteinander vertraut, dieser junge Mann, der mein Sohn sein könnte, und ich? Und warum sonst könnten wir uns eine Stunde später schon streiten, wie es nur Freunde können, als er mir sagt: „Du lavierst herum, don’t play, lifetime is too short. Come to reality.“ Was fällt ihm ein, Dinge so schonungslos und punktgenau auszusprechen, wie sonst nur ich es tue! Aber ich weise ihn wenigstens schnippisch in seine Schranken: „Sei bitte nicht mein Therapeut oder mein Lehrer“, und dann schweigen wir maulend, bis ein schattiger Rastplatz lockt. Mein Muskelkater unten an den Schienbeinen wird heftiger und ich habe Hunger, es ist Zeit für bröckelige Kekse, Oliven aus der Dose und krumpelige Käsereste.
    Gut, meine Beine hoch zu legen, damit das Zwacken aufhört. Und auch wenn Eric mir einen Vogel zeigt, und sagt, dass es das nicht gibt, glaub ich fest daran, dass sich in meinen Beinen, da wo es wehtut, gerade neue Muskeln bilden.
    Nur schlecht, dass nach der Ruhe jeder Schritt von leichtem, ziehenden Schmerz begleitet wird. Und dass der leichte Schmerz stärker wird. „Vielleicht hast du Tendinitis.“ Was soll das sein? Ich verstehe seine Erklärung nicht, aber egal, wie es heißt, es quält mich zunehmend heftiger, und ich nehme Erics Angebot an, die letzten Kilometer meine Beine zu entlasten, in dem er meinen Rucksack trägt. Vorne auf der Brust. Und ich seinen Stock. „Geh langsam.“ „Okay kleiner Bruder. Heut Nachmittag geb ich gern die Verantwortung für mich ab, führ du mich und sag mir, was ich tun soll.“ Ohne Gewicht läuft es

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