Wie Inseln im Strom
soll.”
“Na, dann lass ihn warten.” Gereizt zupfte Tilly an ihrer Perücke. “Ich bezahle ihn dafür. Und ich habe mich eben noch nicht entschieden. Vielleicht blase ich die ganze Sache ab.”
“Tilly.” Lacy beugte sich vor. “Du weißt, dass das nicht wahr ist. Vor einem Monat hast du mir gesagt, dass es für dich nichts Wichtigeres auf der Welt gibt, als deine Tochter zu finden.”
Tilly knurrte und machte eine abwehrende Handbewegung. “Aber nur weil mein Blutzucker an dem Tag so hoch war und ich dachte, ich müsste sterben. Jetzt glaube ich, dass ich wohl doch noch eine Weile leben werde. Also ist es nicht nötig, dass ich einem Privatdetektiv meine alte schmutzige Wäsche auftische, oder?”
Lacy schloss kurz die Augen, atmete tief durch und befahl sich, nicht die Geduld zu verlieren. Es war wirklich nicht einfach, auf ein so unlogisches, unsinniges Argument etwas zu erwidern.
“Erstens, Tilly, du musst nicht auf dem Sterbebett liegen, um mit deiner Tochter Verbindung aufnehmen zu wollen. Es ist ein vollkommen natürlicher Wunsch. Ich habe es nachgelesen, und glaub mir, die Statistiken sind überzeugend. Fast jede Frau, die ein Kind zur Adoption freigegeben hat, verspürt irgendwann das Bedürfnis, es zu finden und wieder zu sehen. Und zweitens, allein stehend und schwanger zu sein, war vielleicht vor sechzig Jahren ‘schmutzige Wäsche’, Tilly, aber heutzutage ganz bestimmt nicht mehr.”
“Das mag schon sein, aber hier auf Pringle Island …”
“Zur Hölle mit Pringle Island”, unterbrach Lacy sie mit ungewohntem Nachdruck. “Du bist die Königin der feinen Gesellschaft dieser Insel. Du sagst den Leuten, was sie denken sollen. Und seit wann interessiert dich, was sie von dir halten?”
Tilly lächelte widerwillig. “Nun ja, wenn du mich schon fragst, würde ich sagen, seit ungefähr sechzig Jahren nicht mehr.”
Lacy nickte. “Genau. Also, was ist? Soll ich dem Detektiv sagen, dass er mit der Suche beginnen soll?”
“Nein. Ja. Ich meine, ich …” Tilly zögerte. Der Trotz fiel von ihr ab, und zurück blieb nur eine Unsicherheit, die Lacy an ihr nicht kannte. “Lacy, ich …”
Zum ersten Mal, seit Lacy sich erinnern konnte, schienen Tilly die Worte zu fehlen. In ihren Augen glitzerten Tränen, und plötzlich wirkte sie vollkommen kraftlos. Ihr Anblick ging Lacy ans Herz. Sie musterte ihre beste Freundin und sah etwas, das sie noch nie zuvor gesehen hatte – eine alte Frau.
“Schon gut, Tilly”, sagte sie rasch. “Wir müssen nichts tun, das dir …”
“Ich habe Angst”, gestand Tilly und legte eine schmale, von blauen Äderchen durchzogene Hand an die Brust, als würde ihr dort etwas wehtun. “So einfach ist das. Ich habe Angst vor dem, was wir herausfinden. Vielleicht sollte ich mich mit meinen Träumen begnügen.” Seufzend legte sie die Hand wieder in den Schoß. “Aber dann denke ich wieder … was, wenn diese verdammte Diabetes mich doch noch umbringt und ich ihr nicht mehr sagen kann, dass …” Sie verstummte.
Lacy schob den Stuhl zurück, ging um den Schreibtisch herum und kniete sich vor sie. “Nicht”, beschwor sie Tilly und nahm ihre Hände. “Reg dich nicht auf. Wir können später darüber reden. Wir müssen jetzt keine Entscheidung treffen.”
“Wer weiß, wie viel Zeit ich noch …”
“Und hör endlich mit diesem Unsinn vom Sterben auf, ja?”, unterbrach Lacy sie scharf und stellte entsetzt fest, dass ihre Stimme zitterte. Sie rang sich ein zuversichtliches Lächeln ab. “Du wirst nicht sterben, denn Dr. Blexrud und ich haben beschlossen, dass wir es einfach nicht zulassen werden.”
Tilly starrte sie an. Ihre Augen waren feucht. Dann hob sie eine Hand und berührte mit den Fingerspitzen Lacys Schläfe.
“Ich danke dir”, flüsterte sie. Ein zaghaftes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und machte es wieder schön. “Du bist ein liebes Mädchen, weißt du das?”
Lacy erwiderte ihr Lächeln. “Heute vielleicht. Trotzdem freue ich mich, dass du es so siehst.”
Tilly schmunzelte, und erleichtert sah Lacy, wie endlich das vertraute Funkeln in ihre Augen zurückkehrte.
“Ja, das bist du. Ein sehr liebes Mädchen. Aber wenn du glaubst, dass du mich daran hindern kannst, Schokoladentorte zu essen, irrst du dich gewaltig. Warte nur ab.”
Wie immer war die Krankenhaus-Cafeteria gut besucht. Tilly und Lacy holten sich Obst und Kaffee und steuerten ihren Lieblingsplatz an, eine kleine Gruppe von Picknicktischen in der
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