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Wie Kinder heute lernen

Titel: Wie Kinder heute lernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Korte
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jugendliche Gehirn ungefähr mit Beginn der Pubertät einen regelrechten Wachstumsschub erlebt. Von Stabilität konnte keine Rede sein, denn nach dem Wachstumsschub kam es genauso massiv zu einer Reduktion in der Größe einiger Stirnlappengebiete. Dieser Prozess betrifft innerhalb des Stirnlappens vor allem den präfrontalen Kortex, der für die Hemmung und Steuerung von Gefühlen zuständig ist (siehe auch Abb. 9 , Seite 118). Er reguliert und kontrolliert die spontanen Impulse und ist eine Art Planungszentrale für zukünftige Handlungen. Es ist dieses Gehirnareal, das aktiv wird, wenn es einem gelingt, erst bis zehn zu zählen, bevor man seinen Chef oder seine Eltern wüst beschimpft. Und es ist auch dieses Areal, was einem erlaubt, trotz mannigfaltiger Ablenkung konzentriert bei einer Sache zu bleiben, ohne jeder Störung (seien es Gedanken, Geräusche oder E-Mails von Freunden) sofort nachzugehen. Der präfrontale Kortex - wenn er voll entwickelt ist - wägt mögliche Handlungsausgänge
ab und nimmt entsprechend Einfluss auf andere Gehirnzentren, um den vorhergesagten Konsequenzen Rechnung zu tragen. Erwachsene fällen so ihre täglichen Entscheidungen - wichtige und unwichtige. Unabhängig davon, ob sich die Entscheidungen im Nachhinein auch als richtig herausstellen, findet hier in Sekundenschnelle eine Nutzen-Risiko-Abwägung statt, der wir uns selten konkret bewusst sind.
    Bei Teenagern ist der Einfluss des präfrontalen Kortex vorübergehend eingeschränkt. Ihre Impulsivität lässt sie entsprechend häufig die Konsequenzen ihres Handelns nicht richtig durchdenken.
    Der kurzfristige Wachstumsschub im präfrontalen Kortex mit Beginn der Pubertät hängt mit dem enormen Auswachsen von bestehenden Nervenzellen zusammen. Durch dieses Wachstum werden neue Synapsen im Milliardenmaßstab gebildet. Aber in einem zweiten Selektionsprozess werden sie an anderer Stelle in einer noch größeren Zahl wieder abgebaut. Es scheint fast so, als ob eine Unternehmensberatung zu größeren Umstrukturierungen, Neueinstellungen in einigen Bereichen und massiven Entlassungen in anderen geraten hätte. Genau in diese Umbruchphase fällt die Pubertät. Diese und andere Studien legen also nahe, dass das wenig kontrollierte und unstete Verhalten von Teenagern sowie ihre Entscheidungsschwierigkeiten auf diese »Umstrukturierungsprozesse« zurückgeführt werden können.
    In der Tat konnte eine von amerikanischen Psychologen durchgeführte Studie aus dem Jahre 2003 zeigen, dass pubertierende Jugendliche spezifische »emotionale und kognitive Defizite« aufweisen. In einem Test, in dem die Geschwindigkeit gemessen wurde, mit der Kinder und Jugendliche Emotionen bei anderen Menschen erkennen können, nahm die Reaktionszeit mit dem Älterwerden der Kinder erwartungsgemäß ab. Die Verarbeitung und Beurteilung von Emotionen wird mit der Gehirnreifung immer effizienter. Doch mit dem Einsetzen der Pubertät verlangsamte sich die Beurteilungszeit wieder erheblich, und zwar
abrupt um zehn bis 20 Prozent. Erst mit dem Ende der Pubertät waren die Jugendlichen besser als zuvor und erreichten schnell das Erwachsenenniveau.
    Für das zum Teil unkontrollierte und nur schwer vorhersagbare Verhalten von pubertierenden Jugendlichen scheint also der Umbau des präfrontalen Kortex verantwortlich zu sein. Dieser Bauabschnitt des menschlichen Gehirns ist erst nach dem 20. Lebensjahr abgeschlossen. Erst dann ist auch die isolierende Ummantelung (Myelinisierung) der Axone endgültig beendet, die maßgeblich die Verarbeitungsgeschwindigkeit von Nervenzellen bestimmt. Allein zwischen dem zwölften und 20. Lebensjahr hat sich die Myelinmenge im Gehirn verdoppelt. Dies bewirkt eine effektivere Verarbeitungsgeschwindigkeit. So werden auch die Verbindungen zwischen den beiden Großhirnhälften verbessert mit dem Ergebnis, dass sich die muttersprachlichen Fähigkeiten steigern. Zwar arbeiten die von Myelin umgebenen Neuronen effektiver, aber sie sind auch starrer, was es uns ab dem Beginn der Pubertät erschwert, Fremdsprachen zu lernen. Als Neurobiologe stellt sich deshalb die Frage, warum man an vielen Schulen in Deutschland immer noch so spät mit der ersten Fremdsprache startet.
    Die Neu- und Umverdrahtung in einigen Gehirnarealen machen also einen Teil der Schwierigkeiten aus, die pubertierende Jugendliche mit sich selbst und infolgedessen auch die Eltern mit ihnen haben. Hier ist nur schwer Abhilfe zu schaffen, aber vielleicht hilft ein Verständnis der

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