Wie Kinder heute lernen
Multiplikationen vierstelliger Zahlen kann er schneller vornehmen, als man sie in einen Taschenrechner eingeben kann. Er liest bis zu zehn Stunden am Tag Sachbücher, bisher über 12 000. Allerdings ist Kim Peek kein Wunderkind. Er ist Autist und lieferte das Vorbild für die Figur des autistischen Raymond Babbitt, dargestellt von Dustin Hoffman in dem Film »Rain Man«. Peek ist ein sogenannter Inselbegabter, der erstaunliche Fähigkeiten hat, aber weder allein über die Straße gehen kann noch eine einfache Kindergeschichte versteht.
Vier Lebensgeschichten, vier Schicksale, viele offene Fragen: Was ist Intelligenz? Wie entwickelt sie sich? Welche Faktoren machen menschliche Gehirne so intelligent? Kann man Intelligenz fördern, oder ist die Höhe des Intelligenzquotienten (IQ) Schicksal? Wie entwickelt sich Intelligenz bei Kindern? Wie kann man verhindern, sein Kind zu überfordern, sodass es, wie bei William Sidis geschehen, die Lust am Lernen und die Leistungsbereitschaft verliert? Können Wissenschaftler eine Grenze ziehen zwischen intelligent und nicht intelligent?
Was ist Intelligenz?
Bei Umfragen wird regelmäßig ermittelt, dass auf der Rangliste der für einen selbst gewünschten Eigenschaften Intelligenz ganz oben steht - und zwar an zweiter Stelle hinter Gesundheit. Eine Allensbacher Erhebung hat ermittelt, was deutsche Bürger unter Intelligenz verstehen. Am häufigsten genannt wurden: Vernunft, Redegewandtheit, Einfühlungsvermögen, Verantwortungsbewusstsein und Schlagfertigkeit. All dies sind Eigenschaften, die sich nur schwer in Intelligenztests messen lassen. Generell gilt, dass Intelligenz ein schillernder Begriff ist, ähnlich wie Bewusstsein oder Geist. Es ist ein Begriff, der sich nur schwer definieren lässt und in verschiedenen Kontexten unterschiedlich benutzt wird.
Eine brauchbare Umschreibung hat der berühmte französische Entwicklungspsychologe Jean Piaget gegeben. Er definierte Intelligenz als das, was man benutzt, wenn man nicht weiter weiß. Man könnte auch sagen: Intelligent ist jemand, der in einer neuen Situation eine richtige Annahme macht. Dies beinhaltet das Finden einer Lösung für ein komplexes Problem oder das Treffen einer richtigen Vorhersage über das, was als Nächstes geschieht. Intelligenz schließt Voraussicht und Kreativität ein. Vor allem dieser letztgenannte kreative Aspekt von Intelligenz wird gerne übersehen, auch weil er nur schwer in einem Intelligenztest gemessen werden kann. Typische Alltagssituationen verdeutlichen, was gemeint ist: Wie lässt sich aus den Lebensmitteln, die noch im Kühlschrank sind, ein mehrgängiges Menü zaubern? Eine Kombination von Zutaten, die jeder kennt, auf eine Art und Weise, die neu ist? Eine Kunst, die Chefköche üblicherweise beherrschen. Ein Beispiel aus Kindersicht ist ein Rollenspiel, das aus einem Zahnstocher (Ritter), kleinen Kugeln und Papierschnipseln (geisterhafte Gegner) entwickelt wird samt einer Geschichte zu diesen »Figuren«.
Evolution der Klugheit
Eine andere Möglichkeit, die menschliche Intelligenz zu fassen, besteht darin, sich die evolutionären Aspekte von Intelligenz anzusehen. Der amerikanische Hirnforscher William Calvin vertritt die These, dass eine Spezialisierung im menschlichen Gehirn in Form bestimmter Gehirnareale, die Aufgaben wie Sprechen, Tanzen oder Bewegungen planen und übernehmen, zur menschlichen Intelligenz geführt hat. Menschliche Intelligenz ist demnach die Fähigkeit, mentale Objekte, also Gedanken, endlos miteinander kombinieren zu können, z. B. wenn man Geschichten erzählt oder Zusammenhänge erklärt. Hier ergibt sich nun eine interessante Parallele zu vemeintlich einfachen Handlungen wie einen Ball einem anderen zuwerfen zu wollen. Diese ballistische Bewegung bedarf einer genauen, vorausschauenden und sequenziellen Planung. Hat man einmal angefangen, sie auszuführen, kann man sie oft nicht mehr stoppen. Dem Gehirn wird hierbei ein enormes Maß an Planung abverlangt, da der letzte Teil der Bewegung (nur etwa ⅛ einer Sekunde) nicht mehr über Feedback-Schleifen korrigiert werden kann. Feedback-Schleifen sind Regelkreise, bei denen das Messglied (z. B. ein Thermostat an der Heizung) den Sollwert (die gewünschte Temperatur) so lange einstellt, bis Messwert und Sollwert übereinstimmen. Das Gehirn muss alles im Voraus planen, andernfalls passiert das, was fast jeder von uns schon einmal schmerzlich zu spüren bekommen hat: nämlich dass der Hammer auf den Daumen zurast,
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