Wie Krähen im Nebel
Wohnzimmer. Sofia hockte mit gekreuzten Beinen auf dem Teppich, mehr im als vor dem Fernseher. Leise ließ sich Laura auf dem Sofa nieder und versuchte zu begreifen, was auf dem Bildschirm ablief: eine angedeutete Bettszene zwischen zwei ziemlich jungen Leuten, eine junge Frau riss die Tür auf – ihr freudig erwartungsvolles Gesicht erstarrte zu einer entsetzten Maske. Aufgerissene Augen – dramatische Musik – Schlusstrailer.
Laura schaute auf die Uhr: kurz vor acht. Sofia ist gerade zwölfeinhalb, dachte sie, und das hier scheint richtiger Mist zu sein! Leise räusperte sie sich. Sofia fuhr herum.
«Du hast ja doch geschaut! Ich find das gemein! Kann man denn in diesem Haus gar nichts für sich allein haben!»
«Starke Worte!», entgegnete Laura. «Natürlich kannst du alles Mögliche für dich allein haben, Sofia. Ich weiß nur nicht, ob es unbedingt eine Fernsehserie sein muss. Die wird schließlich für alle ausgestrahlt!»
«Sei nicht so … so ironisch!»
«Entschuldige, ich will überhaupt nicht ironisch sein. Erklär mir nur bitte eins: Hast du was von diesen Filmen? Lernst du was? Ist es schön für dich?»
«Ja, es ist schön für mich! Und ich lern auch was! Übers Leben nämlich!»
«Aus dem Fernsehen?»
«Klar!» Sofia sprang auf und lief aus dem Zimmer. Lauratrank nachdenklich ihren Tee. Im Fernsehen lief jetzt Werbung.
Sie ist eifersüchtig auf Luca, dachte Laura. Ihr Bruder hat seine erste Freundin, und sie merkt plötzlich, dass sie noch ein kleines Mädchen ist, das nicht mithalten kann. Ich muss an Weihnachten etwas Besonderes mit ihr unternehmen. Gemeinsam mit ihr reiten gehen. Irgendwo auf dem Land. Wie soll ich ihr bloß sagen, dass ich morgen nach Florenz fliege?
Plötzlich wünschte sich Laura ganz intensiv, dass Guerrini nicht anrufen möge, um zu sagen, dass der Transfer stattfinden würde. Vielleicht war es besser, gleich morgen alles an die Europol zu übergeben und die Sache zu vergessen. Sofia war wichtiger als diese verdammten Krähen im Nebel. Sollten sie sich doch gegenseitig die Augen aushacken!
Sie fand Sofia beim Tischdecken in der Küche. Mit dem Handrücken wischte sie Tränen von ihren Wangen, schniefte leise.
«Was ist denn, Sofi?» Laura streckte eine Hand nach ihrer Tochter aus. Da stürzte Sofia sich in die Arme ihrer Mutter und schluchzte los.
«Es ist … weil Luca nie mehr zu Hause ist und er sich so verändert hat … und Papa hab ich auch schon seit zwei Wochen nicht mehr gesehen, und du bist immer weg!»
Laura wiegte ihre Tochter hin und her wie ein Baby, streichelte und liebkoste sie tröstend.
«Das ist alles ganz schlimm, mein Mädchen», flüsterte sie. «Aber Luca ist eben in einem Alter, in dem man sich zum ersten Mal verliebt. Das wird bei dir nicht anders sein, Sofia. Nur dauert es eben noch ein bisschen, und das ist schwer auszuhalten, nicht wahr?»
Sofia nickte und wischte sich über die Augen.
«Weißt du was?», sagte Laura. «Wir essen jetzt ganz gemütlich miteinander, zünden Kerzen an, und dann überlegenwir gemeinsam, was wir an Weihnachten kochen. Schließlich werden wir eine ganze Menge Leute sein: Du, Luca, dein Vater, Großvater und ich. Dann haben wir sie außerdem alle zusammen!»
Laura rückte zwei Stühle nebeneinander, dann setzten sie sich und Sofia zündete drei Kerzen an, kuschelte sich endlich neben Laura und lehnte den Kopf an ihre Schulter. So schwiegen sie eine Weile, schauten den Kerzen zu, deren Flammen ein klein wenig flackerten, weil von der Balkontür her stets ein kleiner Luftzug wehte, den sie trotz aller Dichtungsversuche nie abstellen konnten. Der Auflauf im Herd begann zu duften, und endlich räkelte Sofia sich, schnupperte und fragte: «Was hast du denn so schnell zu essen gezaubert, Mama? Es riecht richtig gut!»
«Ganz einfach! Alles, was im Kühlschrank ist, aufschneiden, in eine Auflaufform geben und Käse drüber. Merk dir das für die Zukunft!»
Sofia schnitt eine Grimasse.
«Also, was kochen wir zu Weihnachten?»
«Irgendwas, das Großvater besonders gern mag!», antwortete Sofia. «Ich hab ihn nämlich sehr lieb!»
«Kaninchen oder Perlhuhn!», schlug Laura vor, und diesmal war sie es, die gegen Tränen kämpfte … weil Sofia so liebevoll um ihren Großvater besorgt war und überhaupt!
Angelo Guerrini rief zehn vor zwölf an. Aufrecht im Bett sitzend hatte Laura auf seine Nachricht gewartet. Kurz nachdem Sofia zu Bett gegangen war, hatte sie ihn erreicht, doch er wusste
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