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Wie Krähen im Nebel

Wie Krähen im Nebel

Titel: Wie Krähen im Nebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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die Augenlider. Kein Zucken war zu sehen, nichts, das ein allmähliches Erwachen anzeigen würde. Endlich machte Laura sich auf die Suche nach dem Arzt, prallte auf dem Flur beinahe mit ihm zusammen.
    «Oh, entschuldigen Sie!», stieß er aus, obwohl er offensichtlich auf sie gewartet hatte.
    «Schon gut! Können Sie mir noch etwas Genaueres über die Verletzungen des jungen Mannes sagen? Ist es zum Beispiel möglich, dass er einen Sturz hinter sich hat? Aus ungefähr zwei Metern Höhe?»
    «Es ist durchaus denkbar, dass er gestürzt und unglücklich aufgekommen ist. Die Prellungen sind sehr stark, und die linke Schulter ist angebrochen. Wir haben das erst heute entdeckt. In der Notaufnahme wurde geschlampt. Aber dieses Hämatom, ich nehme an, dass Sie es gesehen haben. Das auf der Stirn. Es verläuft über die Schläfe zum Auge. Also, wenn Sie mich fragen, dann wurde ihm ein Schlag über den Schädel versetzt. Aber Dr.   Standhaft ist da anderer Meinung. Deshalb haben wir auch keine Meldung gemacht. Er meint, dass dieses Hämatom vom Sturz herrührt. Standhaft ist der Oberarzt, und der Oberarzt hat immer Recht!» Balnjewski lachte kurz auf. Es klang wie ein Bellen.
    «Danke!», sagte Laura. «Wissen Sie, ich sammle Möglichkeiten. Bisher ist alles sehr unklar. Haben Sie eine Ahnung, wie es dem Rangierarbeiter geht? Stefan Brunner?»
    «Er wurde heute operiert. Wenn er Glück hat, kann er sein Bein behalten. Aber das wird sich erst in ein paar Tagen herausstellen. Ansonsten geht es ihm gut. Er ist irgendwie ganz besonders guter Laune. Eher, als hätte er im Lotto gewonnen, und nicht so, als würde er eventuell sein linkes Bein verlieren.»
    Laura lächelte. «Ich habe eine ungefähre Vorstellung, warum er so fröhlich ist.»
    «Und das wäre?»
    «Heldentum!»
    Der Arzt zog erstaunt die Augenbrauen hoch. «Wie soll ich das verstehen?»
    «Fragen Sie ihn doch selbst! Und würden Sie mich bitte anrufen, wenn der junge Mann aufwacht? Oder wenn er irgendwas sagt in seiner Bewusstlosigkeit! Ehe ich’s vergesse – es wird ein Kollege vorbeikommen, der die Fingerabdrücke des jungen Mannes nimmt!» Laura gab dem Arzt ihre Karte. «Wenn Sie diese Nummer anrufen, wird Ihre Nachricht auf alle Fälle an mich weitergeleitet.»
    «Ja, ja natürlich!», murmelte Balnjewski. «Es handelt sich also nicht um einen gewöhnlichen Unglücksfall, oder?»
    «Es sieht nicht so aus. Aber man kann nie wissen!» Laura lächelte dem Arzt geheimnisvoll zu, reichte ihm den grünen Mantel und die Plastikschuhe, war dann so schnell verschwunden, dass er mit ausgestreckter Hand zurückblieb. Verlegen steckte er sie in die Manteltasche, als eine Schwester über den Flur ging und ihn seltsam ansah.
     
    Zwei Tage später erwachte der junge Unbekannte aus dem Koma. Während die Krankenschwester einen neuen Tropf anschloss, öffnete er seine Augen und betrachtete mit gerunzelter Stirn die Zimmerdecke. Als die Schwester ihn leise ansprach, zuckte er kaum merklich zusammen und machte die Augen wieder zu. So blieb es auch, obwohl Dr.   Standhaft und Dr.   Balnjewski gleich darauf ihre ganze Kunst aufwandten, den jungen Mann zu einer Reaktion zu bewegen. Einziges Zeichen, dass er nicht mehr im Koma lag, blieb der veränderte Muskeltonus und hin und wieder eine kleine Bewegung der Hand. Der Körper des Verletzten lag nicht mehr schlaff und leichenähnlich da, sondern war deutlich belebt. In ihrer Ratlosigkeit riefen die beiden Ärzte sogar eine italienische Krankenschwester, die in ihrer Muttersprache auf den Unbekannten einredete. Doch auch sie bewirkte nichts außer einem schmerzerfüllten Gesichtsausdruck des Patienten.
    Nach zwei Stunden erinnerte sich Balnjewski an sein Versprechen, die Kommissarin anzurufen, sobald der junge Mann Lebenszeichen von sich gab. Er wagte aber nicht, das vor den Augen des Oberarztes zu tun, sondern zog sich auf den Flur außerhalb der Intensivstation zurück. Und obwohl er sich schämte, bat er die Kommissarin, seinen Anruf nicht zu erwähnen. Sie ging nicht darauf ein, und so erwartete er ihre Ankunft mit einer gewissen Unruhe. Nicht, dass er Standhaft fürchtete – so weit war es noch nicht gekommen. Aber der Oberarzt konnte sehr unangenehm werden, wenn ihm etwas nicht zusagte. Gegen Polizei auf der Intensivstation hatte er eine ganze Menge. Standhaft war der Meinung, dass Kranke und Verletzte unter seinem besonderen Schutz standen. Wenigstens hier, auf dieser Wartestation zwischen Leben und Tod, sollten sie ihre

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