Wie Krähen im Nebel
Bahnhofsmauer, dazwischen ein schmaler Streifen, ein niedriger Zaun, der Gehweg und dann die Parkbucht. Guerrini schaute zwischen alle Wagen, bückte sich sogar und wusste selbst nicht genau, warum. Es war nur eine vage Ahnung, die ihn zunehmend in Unruhe versetzte, weshalb er schneller ging, von Wagen zu Wagen, und als er das zugeschneite längliche Bündel zwischen zwei Autos entdeckte, stieß er einen leisen Fluch aus.
Guerrini kniete sich neben den Mann, musste sich ganz tief hinabbeugen, denn er lag auf dem Bauch, das Gesicht zur Seite gedreht, ganz flach auf den Boden geschmiegt, als könnte er dort Schutz finden. Guerrini lauschte, meinte kaum wahrnehmbare Atemzüge zu hören, ein leises Röcheln. Er zog seine Lammfelljacke aus und breitete sie über den Verletzten, rief über sein Handy den Notarzt. Während er wartete, versuchte er das Gesicht des Mannes zu erkennen, doch es war sehr dunkel. Guerrini lief zu seinem Wagen zurück und holte eine Taschenlampe. Aber er war sich ohnehin sicher, wer da vor ihm lag, zögerte trotzdem lange, ehe er endlich die Lampe anknipste. Es war Flavio, der da noch an einem zerbrechlichen Lebensfaden hing. Die Sirene des Notarztwagens klang gedämpft durch den Schnee, und Guerrini schwenkte seine Taschenlampe, um den Helfern den Weg zuweisen. Sie hatten nur acht Minuten gebraucht – ein Rekord für hiesige Verhältnisse.
Als der Arzt und die Sanitäter aus dem Wagen sprangen und sich über den Verletzten beugten, trat Guerrini zurück. Einen Augenblick lang war er versucht, einfach zu verschwinden. Die Kollegen der Florentiner Polizei würden sich wundern, dass ausgerechnet ein Commissario aus Siena diesen Mann entdeckt hatte. Sie würden Fragen stellen, und er hatte keine Lust, diese Fragen zu beantworten. Deshalb hatte er nur den Notarzt und nicht gleichzeitig die Polizei gerufen. Das würde mit Sicherheit gleich der Arzt machen, wenn er Flavios Verletzung erkannte. Guerrini tippte auf einen Messerstich oder eine Schussverletzung.
«Ist das Ihre Jacke?», fragte einer der Sanitäter und hielt Guerrinis Lammfelljacke hoch.
«Ja, danke!», murmelte Guerrini und griff danach. «Ganz schön kalt! Was ist denn mit dem Mann?»
«Sieht nach einem Messerstich in den Oberbauch aus! Haben Sie uns gerufen?»
«Ja!», sagte Guerrini.
«Dann warten Sie am besten, bis die Polizei hier ist. Kann nicht lange dauern.»
Guerrini sah zu, wie der Arzt Flavio an eine Infusion anschloss, wie ein Helfer ihm eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht drückte, wie sie ihn vorsichtig auf eine Bahre hoben und in den Krankenwagen schoben.
«Wir können nicht auf die Polizei warten!», sagte der Arzt. «Wenn er eine Chance haben soll, dann müssen wir ihn sofort operieren!»
«Ja! Fahren Sie schon los!», antwortete Guerrini. «Ich warte hier auf die Polizei!»
Als der Krankenwagen fort war, knipste Guerrini seine Taschenlampe an und untersuchte den Platz, auf dem Flaviogelegen hatte. Er fand blutdurchtränkten Schnee, unter dem rechten Vorderrad eines der Autos ein Schlüsselbund, sonst nichts. Die Schlüssel steckte er in seine Jackentasche, leuchtete dann auch den Gehweg ab, ging langsam Richtung Bahnhof, dann in die andere Richtung – fand aber nichts mehr außer einem Fahrplan, der vom Schnee ganz aufgeweicht war. Als sechs Minuten später noch immer nichts von den Carabinieri zu sehen war, beschloss Guerrini, seinem ursprünglichen Impuls zu folgen und zu verschwinden. Flavios Wagen konnte er morgen in Ruhe untersuchen – wenn sich die Lage beruhigt hatte. Die Schlüssel trug er sicher in der Jackentasche. Und so kehrte er zu seinem Wagen zurück, rollte genau in dem Augenblick vom Bahnhofsplatz, als die Carabinieri mit Blaulicht vorfuhren.
«
Buona notte
, Kollegen!», lächelte er und bog in eine Seitenstraße ab.
Als Laura gegen halb zehn wieder in ihr Büro zurückkehrte – sie hatte bei ihrem Vater geduscht und fühlte sich deutlich besser –, sah sie durch die Glasscheiben des Großraumbüros, wie Kommissar Baumann der Sekretärin mit weit ausholenden Gebärden irgendwas erzählte. Leise öffnete sie die Glastür und lauschte.
«… ein Palast! Ein richtiger Palast! Es würde dir gefallen, Claudia. Ein Büro in einem richtigen Palazzo, der ungefähr vierhundert oder fünfhundert Jahre alt ist, und all die hübschen Carabinieri um dich herum. Das ist nicht so ein muffiger Verein wie hier … das hat Klasse. Allein die Uniformen …»
«Na ja!», erwiderte Claudia.
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