Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblueht
in die Kategorie »anstößig«. Da mag es fast überraschen, dass der Dienst auch für ganz normalen Smalltalk über Konzerte, Internetnutzung und Auftritte von Prominenten genutzt wird und sexuell Explizites immer wirksamer aus dem Angebot entfernt wird. Im Rahmen meiner eigenen Recherche auf ChatRoulette wurde ich mit einem Dutzend junger Menschen auf der ganzen Welt verbunden – darunter einem Zimmer voll ägyptischer Studenten, einem algerischen Teenager, einem unhöflichen Amerikaner und einer süß verwirrten Deutschen – und stieß nur auf zwei Fälle von Obszönität (zwei türkische Männer), die aber offenbar nicht miteinander in Zusammenhang standen.
Dieses Muster bietet ein interessantes Gegenargument zu der alten Geschichte von der »Flut pornografischer Angebote« im Internet. Als das Internet Anfang der neunziger Jahre für die breite Öffentlichkeit zugänglich wurde, kamen bald allerorts Stimmen auf, dass dieser neue Raum von Sex und Pornografie verstopft werde. Irgendwann könne man nicht mehr online gehen, ohne mit Schmutz aus dem grenzenlosen digitalen Reservoir der Welt beworfen zu werden.
Drei Jahrzehnte später ist die erotische Apokalypse immer noch nicht eingetreten. Vielmehr ist bemerkenswert, wie einfach es ist, alle möglichen digitalen Tools und Dienste zu nutzen, ohne auch nur einem Hauch von Anstößigkeit zu begegnen. Gibt man in den Browser oder in die Suchmaschine etwas ein, das mit »Sex« zu tun hat, wird man sofort mit Pornowerbung, Versprechen und Bildern überschwemmt. Solange man aber nicht gezielt danach sucht oder besonders Internet-naiv ist, bleibt das Ganze glücklicherweise in seinem Ghetto. Sex und Pornografie mögen zwar mit allem anderen im Wettstreit um unsere Online-Zeit und Aufmerksamkeit stehen, aber es ist ihnen nicht gelungen, andere digitale Aktivitäten zu überholen.
Tatsächlich verhält es sich sogar umgekehrt. Im Jahre 1993, also in den beinahe prähistorischen Zeiten des Internets, beschrieb die Zeitschrift Wired Sex kühn als »Virus, der neue Technologien als Erstes infiziert«. Als das Medium beliebter und reifer wurde, hieß es, OnlineSex – der sich in der jungfräulichen digitalen Landschaft wie ein Lauffeuer verbreitet hatte – werde an Attraktivität verlieren, und zwar vor allem deshalb, weil er kein Potenzial zur Raffinesse besitze.
Was digitale Dienste und Webseiten betrifft, so hat sich dieses Argument zunehmend bewahrheitet. Mit Stand vom Oktober 2010 waren der Internet-Informationsfirma Alexa zufolge Sex und Pornografie für die Welt offiziell weniger interessant als Amazon, Wikipedia, die Internet Movie Database sowie Dutzende anderer Dienste von Suchmaschinen bis hin zu sozialen Netzwerken. Diese wurden unter den weltweiten Top-Webseiten sämtlich höher eingestuft als alle pornografischen und sexuellen Angebote. Nur eine einzige Sex-Seite schaffte es überhaupt in die weltweiten Top 50, und das auch nur auf Platz 44 (es handelte sich um LiveJasmin, eine Seite, die Alexa zufolge »häufiger von Männern im Alter zwischen 18 und 24 besucht wird, die keine Kinder haben und den Dienst von zuhause aus aufrufen«). Weniger als zehn Seiten mit »Erwachsenenangeboten« gelangten in die Top 100.
Hält man sich bei der Analyse des globalen Interesses an »Sex« und »Porno« zwischen 2004 und 2011 hingegen an die Ergebnisse von Google Insights, dann stellt man fest, dass diese beiden Suchbegriffe alles von »Büchern« über »Musik« bis »Kino« schlagen – unter anderem aber von Suchanfragen nach »Google«, »Facebook«, »YouTube« und »Yahoo!« überrundet werden. Wie viele von uns auch interessiert sich das Internet nicht so sehr für Sex wie für sich selbst.
Das liegt teilweise darin begründet, dass viele pornografische und illegale Inhalte aus dem Mainstream-Netz verschwunden und in private Netzwerke ausgelagert worden sind, die direkt und diskret unter denjenigen errichtet wurden, die auf solche Inhalte zurückgreifen möchten. Weitere Gründe sind, dass wir mit der Zeit gelernt haben, mehr von unserer Technologie – und voneinander – zu erwarten; und schließlich, dass die digitalen »Communities«, die zunehmend globalen Einfluss ausüben, auf mehr als nur zwischenmenschlicher Ausbeutung beruhen.
3.
Ein Vergleich mit der E-Mail ist an dieser Stelle sehr aufschlussreich. Wenn ich in meinen eigenen Spam-Ordner blicke, sind die rund 300 Botschaften, die während der letzten Woche eingegangen sind, ziemlich typisch:
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