Wie Samt auf meiner Haut
damals in der Nacht in der Gasse
konnte ich trotzdem seine Augen erkennen. Blaue Augen. So blaue, wie ich noch
nie welche gesehen habe.«
Die letzten
Worte trafen Avery wie ein Hammer. »Blaue Augen, sagst du? Velvets Mann hat
blaue Augen?«
»Blauer als
der Himmel. Wie Saphire.«
Avery ließ
sich wieder auf seinen Stuhl fallen. »Nein.« Er schüttelte den Kopf.
»Ausgeschlossen. Das kann nicht sein.« Unvermittelt aufspringend, eilte er
hinter seinem Schreibtisch hervor und lief an Baccy vorüber zur Tür. »Komm
mit.«
Nachdem sie
mehrere Korridore hinter sich gebracht hatten, führte Avery den Mann in die
lange Galerie an einer Reihe Familienporträts vorbei zu einem Gemälde, das ein
wenig abseits hing. »Baccy, sieh dir das Bild an. Ist er das?«
»Wer?«
»Velvets
Mann, du Schwachkopf. Du hast ihn doch gesehen. Also, ist er das?«
»Das sind
doch Sie auf dem Bild.«
Avery zwang
sich zähneknirschend zur Ruhe. »Ja, links bin ich. Aber sieh dir den
dunkelhaarigen Jungen genau an. Jetzt wäre er älter. Ein erwachsener Mann um
die Dreißig. Stell ihn dir größer, breiter vor. Baccy, ist das der Mann, den du
gesehen hast?«
Baccy ging
näher heran. Dann drehte er sich verblüfft um. »Das ist er, der Mann aus der
Gasse. Es war zwar neblig, aber ich hatte ihn im Haus schon flüchtig gesehen
und damals in der Nacht sehr gut.«
Der
beschränkte Kerl konnte sich natürlich irren, aber eine innere Stimme sagte
Avery, daß das nicht der Fall war. Er drehte sich um, starrte das Bild an, und
plötzlich wußte er ohne den geringsten Zweifel, daß der Mann, mit dem er sich
im Lagerschuppen treffen würde, sein angeblich seit langem toter Bruder sein
würde.
Sekunden
verstrichen. Baccy rührte sich nicht, und Avery glotzte das Porträt an.
»Er muß es
sein«, knurrte er schließlich. »Alles fügt sich nahtlos zusammen. Die
Entführung. Velvets überstürzte Hochzeit – mein Bruder verstand sich immer auf
Frauen.« Er spitzte seine Lippen. »Der Schuft ist also von der Toten auferstanden
... trotzdem wird er daran nicht mehr lange Spaß haben.«
»Wer?«
fragte Baccy verständnislos.
»Mein
Bruder, du Trottel!«
»Ach so.«
»Er glaubt
wohl, er hätte mich in der Hand, während ich ihn in Wahrheit in der Hand habe.
Ich war immer schon klüger als er.« Er lachte teuflisch auf. »Manches ändert
sich eben nie.«
Am Kai
war es ruhig. Nur
das Geräusch des Brackwassers, das gegen nasse Planken leckte, durchbrach die
Stille der mondlosen Nacht. Der Gestank nach toten Fischen und Moder stieg
Jason unangenehm in die Nase, als er mit Ludington und Barnstable zu Luciens
verlassenem Lagerhaus fuhr.
Sein Freund
würde mit Richter Randall unabhängig dort eintreffen, um mit ihm sofort in das
leere Kontor im rückwärtigen Teil zu verschwinden. Lucien wollte kein Risiko
eingehen, daß Randall womöglich den Mann erkannte, der einst der junge Duke of
Carlyle war, obwohl er den Titel nur ein paar Tage vor seiner angeblichen
Ermordung im Gefängnis von Newgate getragen hatte.
Jason
tappte durch den weiten Lagerraum und zündete eine halb heruntergebrannte Kerze
an, die auf einer Kiste stand. Dann zog er seine Taschenuhr heraus und sah
nach, wie spät es war. Noch zwanzig Minuten bis zu Luciens An kunft. Alles war
bereit. Erfolg oder Mißerfolg waren in unmittelbarer Reichweite.
Jetzt hieß
es, geduldig zu warten.
Velvet schaute auf die prächtige Uhr im
Salon. Seitdem sie letztes Mal hingesehen hatte, waren erst fünf Minuten vergangen.
Es war die längste Nacht ihres Lebens.
»Ich hätte
mitfahren sollen«, murmelte sie, legte ihre Handarbeit beiseite, nur um gleich
darauf wieder danach zu greifen und entschlossen die Nadel durch das Material
zu stechen. »Ich hätte durchsetzen sollen, daß sie mich mitnehmen. «
»Was ist,
meine Liebe? Was hast du gesagt?« Der Earl sah von seiner Lektüre auf.
»Nichts,
Großvater. Ich ... ich bin heute nur ein wenig durcheinander.«
Er legte
ein Lesezeichen ein und klappte das Buch zu. »Warum läßt du dir nicht ein Glas
warme Milch bringen und gehst zu Bett? Genau darauf hätte ich auch Lust.« Er
stand auf und legte den schweren, in Leder gebundenen Folianten auf einen
Tisch. »Und genau das werde ich tun – zu Bett gehen.«
Auch Velvet
erhob sich. »Ich selbst möchte heute nichts mehr, aber du sollst dein Glas
bekommen. Wenn es fertig ist, bringe ich es dir.« Sie ging zu ihm, stellte sich
auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuß auf die welke Wange.
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