Wie Sand in meinen Händen
Blick.
»Regis …«
Ihre Nichte stand auf der Trittleiter, hatte ein Kopftuch umgebunden und staubte die Bücher auf dem obersten Regalbrett ab, als wäre es ein ganz normaler Arbeitstag. Sie nahm jedes Buch einzeln heraus und rieb es behutsam mit einem Flanelllappen ab, bevor sie es an seinen Platz zurückstellte.
»Ich weiß, dass du heute zum Dienst eingeteilt warst, aber ich hatte dich nicht erwartet«, sagte Bernie.
»Ich nehme meine Pflichten sehr ernst.«
»Deine Familie sucht dich.«
»Familien suchen sich dauernd.«
Bernies Herz drohte auszusetzen; wie war das gemeint? »Regis, komm bitte von der Leiter herunter. Es besteht wirklich keine Eile, die Regale müssen nicht alle an einem Tag abgestaubt werden.«
»Das ist die falsche Einstellung.« Regis staubte vorsichtig einen grünen Bucheinband ab.
»Wie bitte?«
»Du sprichst von ›Regalen‹, aber ich staube die
Bücher
ab, die sind das Wichtigste. Weißt du, wie lange manche schon unbenutzt hier herumstehen?« Sie nahm einen Band in die Hand, öffnete den Schutzumschlag und warf einen Blick auf den Stempel der Bibliothek. »Das hier wurde 1973 zum letzten Mal ausgeliehen. Vielleicht ist es danach nie wieder von menschlichen Händen berührt worden. Armes altes Buch.«
»Wie lautet der Titel?«
Regis spähte auf den Buchrücken. »
Vita Sanctus Aloysius Gonzaga.
«
»›Das Leben des heiligen Aloysius Gonzaga‹, verfasst in lateinischer Sprache«, übersetzte Bernadette. »Er war ein italienischer Adeliger, wuchs in einem Schloss auf. Sein Vater war ein notorischer Spieler, seine Mutter ein Wrack, die Familie zerrüttet.«
»Ich schätze, viele Heilige stammen aus zerrütteten Familien. Und nicht nur Heilige, nebenbei bemerkt.«
»Was ist nur in dich gefahren, Regis Maria? Gestern Abend hast du einen Aufruhr verursacht, wie ich hörte, dann verschwindest du spurlos und machst deiner Familie Sorgen, und nun lässt du solche Sprüche vom Stapel? Komm sofort herunter und sag mir, was los ist.«
Sie maßen sich mit Blicken. Dann begann Regis, die Leiter herunterzusteigen; mühsam zurückgehaltene Tränen glänzten in ihren Augen.
»Gib mir bitte den Gonzaga, ja?« Als Regis ihr das Buch gereicht hatte, ergriff Bernie ihre Hand und half ihr herunter. Ihre Finger verschränkten sich, und sie sah, dass Regis’ Schultern bebten. Langsam ging sie ihrer Nichte durch die Bibliothek voran. Sie war lang und schmal, nach dem gleichen Grundriss wie der Long Room im Trinity College von Dublin erbaut, mit einem Tonnengewölbe, einer Empore mit Bücherschränken, einem Zwischenstock mit einer Eichenbalustrade und Bücherregalen auf zwei Ebenen. Toms Urgroßvater hatte keine Kosten gescheut. Als sie mit Tom in Dublin gewesen war, hatten sie die berühmte Bibliothek besucht; sie musste jedes Mal daran denken, wenn sie durch diese Räume ging.
In ihrem Büro angekommen, legte Bernadette das Buch auf die anderen Bücher über den heiligen Franz von Assisi: noch ein Heiliger, der seinen eigenen Weg gegangen war, statt in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, eines wohlhabenden Großgrundbesitzers. Toms Urgroßvater blickte streng von seinem Porträt an der Wand auf sie herab, als schwante ihm, was sie ausgerechnet an diesen Büchern interessierte und wie sehr sie deren Inhalt an Tom Kelly erinnerte. Sie wandte dem Gemälde den Rücken zu und sah Regis an.
»Und jetzt wüsste ich gerne, was los ist.«
»Das würde ich
dich
auch gerne fragen.«
»Deine Eltern machen sich wirklich große Sorgen, Regis. Peter auch. Er war hier und hat dich gesucht.«
»Wir sind nicht mehr verlobt. Ich habe ihm gestern Abend den Ring zurückgegeben.«
»Ich weiß.«
»Der Priester wird sich freuen. Er hat von Anfang an versucht, uns die Heirat auszureden. Hast du ihn dazu gebracht?«
»So groß mein Einfluss beim Heiligen Stuhl und der Erzdiözese auch sein mag, an der Schwelle von Father Joes Pfarrhaus endet er. Was hat er gesagt?«
»Dass wir damit warten sollen, bis wir absolut sicher sind, das Übliche. Genau das, was du, Mom und die Drakes mir dauernd gepredigt haben.«
»Ein weiser Rat.«
»Weisheit wird merklich überbewertet«, meinte Regis.
»Was du nicht sagst.«
»Ja.«
»Was könnte wichtiger sein als Weisheit?«
»Liebe«, erwiderte Regis. »Und Leidenschaft. Und erzähl mir nicht, dass du das nicht verstehst.«
»Ich bin Nonne.«
»Ja.« Regis’ Augen verengten sich. »Aber das warst du nicht immer.«
Bernies Herz drohte auszusetzen.
»Mir ist
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