Wie Tyler Wilkie mein Leben auf den Kopf stellt und was ich dagegen tun werde: Roman (German Edition)
hörte Ty unten Klavier spielen. Ich sah auf die Uhr. Ich hatte meinen Mittagsschlaf überzogen und nur noch zehn Minuten Zeit, um mich fertigzumachen. Ich streifte das blaue Kleid über, legte etwas Lipgloss auf und steckte mein Haar mit einer großen Spange hoch.
Ty erwartete mich am Fuß der Treppe. Er trug einen kastigen, schlecht sitzenden blauen Anzug.
»Du siehst hübsch aus«, sagte er.
»Du auch.« Ich bin eine lausige Lügnerin.
Verlegen gestand er: »Den habe ich zum letzten Mal vor sechs Jahren zur Beerdigung meines Großvaters getragen.«
Ich befühlte den glatten Stoff seines Ärmels. »Noch mehr, womit man dich erpressen könnte.«
»Gut, dass ich dir vertraue.«
»Wo sind deine Eltern?«
»Die sind schon vor ein paar Minuten losgefahren.«
Draußen hielt er mir die Autotür auf. Dann stieg er selbst ein und reichte mir das wunderschöne Armband, ganz kalt, direkt aus dem Kühlschrank. Ich legte es an und bewunderte es, während wir aus der Auffahrt bogen. »Wie seltsam, dass du so etwas kannst«, sagte ich.
»Die Woche über musste ich nach der Schule im Geschäft helfen. Ich bekam kein Geld dafür, aber es war der beste ›richtige‹ Job, den ich je hatte.«
»Was hast du nach der Schule gemacht?«
»Erst mal bin ich von zu Hause ausgezogen und habe bei einem Holzgroßhandel gearbeitet.«
»Klingt nicht sehr aufregend.«
»Stimmt. Danach hatte ich noch ein paar andere Jobs.«
»Zum Beispiel?«
»Als Hilfspfleger im Krankenhaus. Aber ich wurde gefeuert.«
»Wieso?«
»Ich habe einen Patienten zum OP gefahren und vergessen, die Seitengitter am Bett hochzuklappen, und da ist er unterwegs im Flur praktisch rausgefallen.«
»Wie, er ist praktisch rausgefallen?«
»Na ja, ich habe ihn gerade noch so aufgefangen. Danach habe ich bei einem Bestatter gearbeitet. Den Leuten da kann man nicht so leicht wehtun.«
»Was hast du dort gemacht?«
»Alles, wozu man mich eingesetzt hat.«
»Möchte ich wissen, was das bedeutet?«
»Ich glaube nicht.«
Es wurde still, bis auf das Trommeln seiner Finger auf dem Lenkrad. Er komponierte einen Song. »Brauchst du was zum Schreiben?«, fragte ich.
»Ja.« Er fuhr rechts ran, und ich reichte ihm den kleinen Spiralblock und einen Stift aus meiner Tasche.
Er kritzelte eine Weile und riss dann die Seite heraus.
»Ich spiel’s dir später vor, mal sehen, ob es dir gefällt.«
Zehn Minuten später parkten wir vor dem Holiday Inn.
»Gibt es irgendetwas, was ich über deine Großmutter wissen sollte?«, fragte ich.
»Wie meinst du das?«
»Wessen Mutter sie ist, zum Beispiel.«
»Die Mutter meiner Mutter.«
»Und wie heißt sie?«
»Rebecca Rachel Sinclair.«
»Und sie wird achtzig?«
»Ja, nächste Woche.«
»Und ich soll sie mit meinem Mordsverstand beeindrucken.«
»Genau. Weißt du, ich bin dir echt dankbar, Grace.«
»Schon okay.«
»Ich hoffe, Gram dadurch ein bisschen zu beruhigen. Sie hat sich Sorgen um mich gemacht.«
»Stets zu Diensten.«
»Wie willst du sie eigentlich davon überzeugen, dass wir beide zusammen sind?«
»Zusammen. Tja … Ich könnte zum Beispiel neben dir stehen, wenn du mich vorstellst.«
»Und dann?«
»Nehme ich deinen Arm?«
Er verzog skeptisch das Gesicht.
»Du weißt schon, besitzergreifend. Als würde ich dich als meinen Mann betrachten. Eine einfache Freundin würde sich nicht so an dich hängen, oder?«
»Wahrscheinlich nicht.« Er wirkte nicht sehr begeistert.
»Was soll ich denn machen, deiner Meinung nach? Dein Bein rammeln?«
Er war entzückt. »Grace, du sagst sonst nie schmutzige Sachen!«
»Tut mir leid, das war geschmacklos.«
»Na schön«, sagte er. »Dann nimm meinen Arm, das ist schon okay. Und vielleicht könntest du ein, zwei Mal verliebt gucken.«
»Könntest du mir das näher beschreiben?«
Er seufzte. »Gib dir einfach Mühe.«
Als wir ausstiegen, kam eine Frau über den Parkplatz auf uns zu. Ich beobachtete, wie sie sich ohne zu lächeln näherte, und ich musste mich zwingen, nicht ehrfürchtig zurückzuweichen. Sie war prachtvoll. Hochgewachsen, kerzengerade. Sie trug ein cremefarbenes Wickelkleid und hochhackige Schuhe, und ihr Haar fiel in weichen Wellen über ihren Rücken. Unsichtbares Make-up, hell-bernsteinfarbene Augen. Abgesehen von dem Libellen-Tattoo auf dem rechten Fußknöchel hätte man sie für die elegante, erbarmungslose Generaldirektorin eines führenden Unternehmens halten können.
»Hey«, sagte Ty.
»Hey, Arschgesicht.«
»Das ist Grace.«
Sie
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