Wie viel Mensch braucht ein Hund: Tierisch menschliche Geschichten (German Edition)
besitzen müssen. Wenn ich zum Beispiel bei meinem Hundefleischer an der Kasse anstehe, höre ich fast jedes Mal, dass über den Verkaufstresen auch Tipps in puncto Hundeerziehung gegeben werden. Dabei finde ich am bemerkenswertesten, dass die Kunden selbst nach diesen Tipps fragen und sie sich dankbar anhören. Ich bin mir ganz sicher, dass niemand von uns einen Apotheker bitten würde, ihn zu operieren, nur weil er täglich mit kranken Menschen zu tun hat. Wenn es um Hundeerziehung und Therapie geht, scheint in uns jedoch häufig ein nicht zu bremsender Drang zu entstehen, Tipps zu geben oder zu empfangen. Egal von wem. Ich möchte euch hier nicht kritisieren, nur darauf hinweisen, dass auch ihr auf die Rezepte eines ›Apothekers‹ gehört habt, anstatt nach einem ›Arzt‹, in diesem Fall einem Hundetherapeuten, zu suchen.«
Nach einem betretenen Schweigen sagt der Mann: »Ich bin auch der Meinung, dass wir nicht immer auf andere Leute hören müssen, aber meine Frau wollte alles richtig machen. Sie hat sich sehr bemüht.«
Ich spüre, dass ich wohl etwas zu heftig war, und sage einlenkend: »Natürlich. Ein halbes Jahr lang mit einem so schwer traumatisierten Hund zu leben ist mehr als eine Bemühung. Ich wollte das Thema nur ansprechen, weil ihr offenbar noch immer einiges an Energie für euren Ärger verschwendet, eure Kraft aber jetzt für Luise braucht. Also lasst uns loslegen. Nicht wahr?«
»Ich bin dabei. Was soll ich tun?« Helmuts Initiative signalisiert, dass die Aussicht auf Aktivität ihn mehr beflügelt als lange Gespräche.
»Eine gute Einstellung«, nehme ich seinen Elan auf. »Im Augenblick setzt Luise ja nur ihre Lebenssituation von früher fort, indem sie sich einen neuen Verschlag unter eurem Bett gesucht hat. Ich habe den Eindruck, dass sie schwer traumatisiert ist. Von allein kann sie da gar nicht wieder herausfinden.«
»Siehst du, das hab ich doch immer gesagt, dass sie traumatisiert ist.« Beate tippt ihren Mann mit dem Zeigefinger an den Oberarm.
»Darunter kann ich mir nichts vorstellen«, sagt dieser schlicht und sieht mich, offenbar auf eine Erklärung wartend, an. In seinen blauen Augen ist nun ein Anflug von Skepsis zu erkennen.
Ich fasse den Sachverhalt so knapp wie möglich zusammen: »Wenn Tiere sich in Gefahr fühlen oder in eine ausweglos scheinende Lage geraten, versuchen sie entweder zu fliehen oder zu kämpfen. Gelingt ihnen weder die Flucht noch eine Abwehr, können sie sich nur noch tot stellen und verfallen in eine Körperstarre, um den Angreifer zu täuschen. Normalerweise schütteln sie diese Starre wieder ab, wenn der Angreifer verschwunden ist, und sie entladen die überschüssige Energie, die weder in die Flucht, noch in die Verteidigung gehen konnte, durch ein Zittern. Dann bleibt nichts aus dieser Situation zurück, und sie können ganz normal weiterleben. In Luises Fall jedoch ist es so, dass die schreckliche Situation in dem Verschlag ja kein temporärer Angriff war, sondern ein Dauerzustand. So konnte sie weder aus ihrer Erstarrung auftauchen, noch ein normales Leben weiterführen. Wenn sich die Schockenergie aber nie entladen kann, bleibt man wie in einem ›schwarzen Loch‹ darin gefangen. Das bezeichnet man als Trauma. Deshalb kann Luise sich nicht anders verhalten, auch wenn die Angstsituation schon längst beendet ist.«
»Oh mein Gott, ich hoffe, man kann ihr noch helfen«, bricht es aus Beate heraus. Erneut laufen ihr Tränen über das Gesicht, als sie fragt: »Aber wie willst du das machen? Du kannst doch den Hund nicht auf die Couch legen.«
Ich muss trotz des ernsten Themas bei dieser Vorstellung schmunzeln und antworte: »Nein, auf die Couch muss Luise nicht. Ich werde jetzt etwas versuchen, was man Pendeln nennt. Es kommt von dem amerikanischen Traumatherapeuten Peter Levine. Sehr vereinfacht gesagt, pendelt man bei dieser Methode immer zwischen der belastenden Situation und einer angenehmen Körpersituation hin und her, bis sich die Belastung nicht mehr so schlimm anfühlt. Peter Levine wendet das bei traumatisierten Menschen an, und das Ganze verlangt einiges Fingerspitzengefühl. Macht man einen Fehler, erreicht man das Gegenteil und traumatisiert den Patienten erneut. Weil ich von den Hunden ja keine verbale Rückmeldung darüber erhalten kann, wie sie sich fühlen, muss ich ausschließlich meinen eigenen Instinkten vertrauen. Falls ich also von Luise nichts spüre, oder zu wenig, um sie da hindurchzuführen, werde ich aufhören. Auch
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