Wie viel Mensch braucht ein Hund: Tierisch menschliche Geschichten (German Edition)
»Nackenschieber« bewege ich sie ein paar Schritte hin und her, damit sie ein Gefühl für ihre Laufbewegungen bekommt. Sie setzt sich etwas steifbeinig in Gang, wirkt beim Gehen jedoch nicht mehr so automatenhaft wie zuvor. Mit Schwung laufe ich mit ihr in das Wohnzimmer. Mein Instinkt sagt mir, dass es für Luise besser ist, sich in einem Spurt dem Ort zu nähern, den sie noch fürchtet. Sie konzentriert sich dabei ganz auf das Laufen und nicht auf ihre Angst. Den Rückweg ins Schlafzimmer lege ich sehr langsam mit ihr zurück, damit sie diesen Gang in die »Sicherheit« bewusst wahrnehmen kann.
Diesen Ablauf wiederhole ich ungefähr zehn Minuten lang immer wieder. Im Schlafzimmer zeigt Luise bereits durch Augenbewegungen an, dass sie sich räumlich zu orientieren beginnt. Wenn überhaupt, hat sie den Raum ja bisher nur aus der Unter-dem-Bett-Perspektive gesehen. Ich vermute jedoch, dass sie in ihrer Erstarrung auch von dort aus nicht wirklich etwas wahrnehmen konnte. Bei dieser traumatischen Form der inneren Abschaltung, wie sie bei Luise vorhanden ist, sorgt der Organismus durch das Herunterfahren aller Sinneseindrücke dafür, dass er weiter überleben kann. Deshalb haben traumatisierte Hunde häufig Probleme, sich überhaupt zu orientieren.
Eine ganz flüchtige Augenbewegung in meine Richtung, von der man meinen könnte, sie wäre einem Versehen geschuldet, deutet eine weitere Verbesserung an. Die Hündin beginnt nun offenbar, auch Informationen über das fremde Wesen einzuholen, das ich für sie bin. Auch ihre Ohren wenden sich etwas nach hinten, nur ihre Nase bewegt sich nicht.
Ich hocke mich einen halben Meter entfernt neben sie auf den Boden und drehe ihr den Rücken zu, damit sie ihre Erkundung gefahrlos intensivieren kann, falls sie das möchte. Nach ein paar Minuten höre ich hinter meinem Rücken plötzlich ein Geräusch. Es klingt wie ein leises, langes Pfeifen. Ich brauche etwas, um zu begreifen, dass es der Atem der Hündin ist, die ihr bisher fest geschlossenes Maul offenbar geöffnet hat. Ich drehe meinen Kopf zur Seite und sehe aus den Augenwinkeln noch etwas Überraschendes. Die Hündin blickt mich an.
»Jawoll. Du schaffst das«, spreche ich sie das erste Mal ruhig und leise an.
Ich warte noch einen Moment, dann stehe ich langsam auf.
»Und los geht’s, mein Mädchen.« Auch wenn sie die Bedeutung der Worte nicht versteht, so empfängt sie doch die aufmunternde, freundliche Energie der Töne. Tatsächlich folgt mir Luise, als ich loslaufe.
Als ich, im Wohnzimmer angekommen, stehen bleibe, blickt sie mich an. Ich hocke mich neben sie auf den Boden, weil ich den Eindruck habe, dass sie sich an mir zu orientieren beginnt und ich ihr für die neue Situation Schutz bieten kann. Sie setzt sich und zeigt mit Augen- und Ohrenbewegungen an, dass sie das Neue in sich aufzunehmen beginnt.
Aus den Augenwinkeln nehme ich den starr gebannten Blick Beates wahr. Helmut sieht über seine Zeitung.
»Haaaaaaaa«, dieser plötzliche, hohe Schrei kommt so überraschend, dass wir alle zusammenfahren. Es ist ein Ton, der nicht wirklich nach einem Hund klingt, sondern zu vielen Wesen gehören könnte, die große Angst haben. Dieses Lebenszeichen zeigt zwar an, dass Luise wieder zu fühlen beginnt und diesen Gefühlen auch Ausdruck verleiht, dennoch will ich vermeiden, dass sie von ihrer Angst überwältigt wird. Deshalb leite ich ihre Emotion in eine aktive Flucht um, die ihr das Gefühl geben soll, handlungsfähig zu sein – etwas, das sie in dem Verschlag des Massenvermehrers niemals war. Ich lasse ihre Leine locker und ermutige sie in dem Impuls, zurück in das Schlafzimmer zu laufen.
»Los, mein Mädchen. Ab geht die Post«, rufe ich in unbeschwertem Tonfall, der sie nicht in ihrer Angst, sondern nur in der Möglichkeit, sich zu entfernen, bestärken soll. Luise rennt los. »Toll. Gut gemacht«, lobe ich sie im Schlafzimmer. »Und noch einmal dasselbe.« Wir starten wieder zum Wohnzimmer durch.
Nach sieben Wiederholungen beginnt Luise zu zittern und stark zu hecheln.
»Maja, das ist jetzt vielleicht zu viel für sie, sie zittert ja so …«, höre ich plötzlich hinter mir Beate mit besorgter Stimme sagen. Ich fahre wie Luise kurz zusammen, weil ich Beate und Helmut in diesem Moment gar nicht präsent hatte.
»Das Zittern ist wunderbar, Beate, das Beste, was passieren kann, vertrau mir«, sage ich in aufmunterndem Tonfall, während ich mit der Hündin im Lauftempo das Zimmer verlasse, damit sie von
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