Wie viel Mensch braucht ein Hund: Tierisch menschliche Geschichten (German Edition)
der Anspannung nicht angesteckt wird und Beate durchatmen kann.
Im Schlafzimmer hechelt Luise extrem stark und zittert weiter. Diese angestauten Energien, die nun offenbar mit jahrelanger Zeitverzögerung Luises Körper verlassen, lassen sich tatsächlich mit dem Zittern verwechseln, das die Angst vor etwas Aktuellem hervorrufen kann.
»Bei uns ist alles gut«, sage ich laut und in der Hoffnung, Beate und Helmut hören mich. »Luise erwacht zum Leben.« Plötzlich drängt die Hündin nach vorn in Richtung Flur, und da es das erste Mal ist, dass sie selbst diesen Impuls zeigt, löse ich die Schaumgummischlaufe, die bisher ihren Schwanz hielt, und gebe etwas Leine nach. Dann lasse ich sie loslaufen und folge ihr. Sie rennt aus dem Zimmer in den Flur, weiter in die Küche und wieder zurück in das Schlafzimmer. Sie hält inne, zittert, hechelt stark, setzt sich. Springt erneut auf, läuft in die Küche, blickt sich um, läuft zurück, legt sich auf den Bettvorleger und zittert etwas weniger. Dann sieht sie mich an.
Ihr Blick ist unsicher und verstört, und sie wirkt, als sei sie gerade aus einem bösen Traum erwacht. »Gut machst du das. Großartig«, sage ich so ruhig ich kann, obwohl ich mich unglaublich freue. »Habt noch etwas Geduld da drüben. Wir sind auf einem sehr guten Weg«, informiere ich noch einmal Beate und Helmut.
Nach einigen Minuten atmet Luise fast ruhig. Ihre geweiteten Pupillen haben sich auf eine normale Größe reduziert. Sie sieht mich mit kurzen Blicken immer wieder an.
Allein die Nase, ihr wichtigstes Sinnesorgan, verwendet sie noch immer nicht. Das hat etwas von einer Tennisspielerin, die sich nach einer langen Pause wieder auf den Platz traut, aber nicht mehr weiß, wie sie den Schläger in die Hand nehmen soll. Die wichtigsten Informationen, die ein Hund überhaupt gewinnen kann, erhält er über seine Nase. So wie wir Menschen uns ein Gegenüber mit den Ohren und Augen erschließen (Tonfall und Körperhaltung erzählen uns Notwendiges über dessen Emotionen und Verfassung), erhalten Hunde wichtige Informationen über ihre Nase. Sie ist ihr soziales Organ, das ihnen je nach Vermögen auch Sicherheit und Kompetenz verleihen kann. Setzt ein Hund seine Nase nicht mehr ein, ist das so, als ob ein Mensch mit Ohrstöpseln und Augenbinde durch die Welt laufen würde.
Ich fasse deshalb in meine Gürteltasche und hole ein stark riechendes Stückchen Käse hervor. Ich habe diesen »Stinkekäse« deshalb mitgebracht, weil er nur sehr schwer zu ignorieren ist und ihn nach meiner Erfahrung fast alle Hunde gerne fressen. Ich lege ihn auf den Holzboden, vielleicht dreißig Zentimeter von Luise entfernt. Ihn genau vor die Hündin hinzulegen könnte eine Abwehrreaktion bei ihr auslösen und würde zudem den erwünschten Einsatz ihrer Nase unnötig machen.
Es vergehen sicher zwei Minuten. Dann ein ganz winziges Zucken der Nase – Pause. Ein heftiges Zucken der Nase – Pause.
Eine kleine Kopfbewegung in die Richtung des Futters.
Dann eine Überraschung, die mich fast »umhaut«. Ihr Kopf geht wie in Zeitlupe nach vorn, während der Rest des Körpers da bleibt, wo er ist. Sie reckt den Hals so weit sie kann in Richtung Futter, damit sie, ohne sich von ihrem Platz wegzubewegen, an den Käse kommt. Ihre Zunge erscheint und leckt ganz vorsichtig an dem Käsestückchen. Mit einer unsicheren Bewegung versucht sie, das Futter mit der Zunge einzusammeln. Nach mehreren Anläufen gelingt es. Sie kaut ganz behutsam und schluckt.
In diesem Moment muss ich mich sehr beherrschen, um meiner Freude nicht lautstark Ausdruck zu verleihen. Ich unterdrücke meine Gefühle nur, um Luise nicht zu erschrecken, und sage so ruhig ich kann: »Wow, das hat du großartig gemacht, mein Mädchen.«
Dann werfe ich das nächste Stück: »Hier, auf ein Neues.« Auch dieses frisst sie vorsichtig und blickt mich danach sehr schüchtern an. »Herzlich willkommen im Leben«, denke ich und muss mich wieder zusammenreißen, um nicht vor Freude in die Luft zu springen.
Das nächste Käsestück werfe ich weiter weg. Jetzt, wo keine Panik mehr in ihrem Blick zu sehen ist, fällt mir zum ersten Mal die schöne schwarze Umrandung von Luises braunen Augen auf. Wieder bewegt sie zuerst die Nase nach vorn, dann den Kopf, dann streckt sie den Hals nach vorn. Mit einem Blick zu mir, mit dem sie sich vergewissert, dass ich bleibe, wo ich bin, robbt sie mit dem Oberkörper ein ganz kleines Stück nach vorn, weil sie das Käsestück noch nicht
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