Wie weiter?
wachsen in sogenannten Risikolagen auf, also in armen oder bildungsfernen Elternhäusern.
Eine Studie über Berliner und bayerische Abiturklassen hat ergeben, dass das Faktenwissen der bayerischen Abiturientinnen und Abiturienten größer ist als das der Berliner. Das glaube ich sofort, weil ich Abiturienten aus beiden Bundesländern kenne. Andererseits ist auch festgestellt worden, dass die Berliner Zusammenhänge besser erklären können. Mit anderen Worten: Die bayerischen Abiturienten wissen, wer wann geboren und gestorben ist, und die Berliner wissen, warum.
Wahrscheinlich sitzen im Bundestag einige Abgeordnete, die eine Gemeinschaftsschule besucht haben, aber von zweien weiß ich es mit Bestimmtheit. Die eine heißt Angela Merkel, der zweite bin ich. Sie ist Bundeskanzlerin, ich Fraktionschef. Offenkundig haben wir an dieser Schule etwas auf den Lebensweg mitbekommen, das uns sehr verschieden hat werden lassen, aber doch irgendwie für diese Aufgaben qualifizierte.
Gemeinschaftsschulen sind sinnvoll. Alles andere ist soziale Ausgrenzung. Wir müssen jede Begabung fördern. Das haben die Kinder verdient, und das haben wir verdient. Kinder können nichts dafür, wenn ihre Eltern Hartz IV beziehen. Kinder dürfen nach der vierten oder sechsten Klasse nicht aussortiert werden. Wir brauchen ein wirklich modernes Bildungssystem in Deutschland – und zwar für alle Kinder.
Die öffentlichen Bildungsausgaben sind bei uns im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung um 20 Prozent geringer als in den meisten anderen Industriestaaten, im Vergleich zu Skandinavien sogar um 50 Prozent niedriger. Der Gipfel ist, dass Lehrerinnen und Lehrer zum Teil prekär beschäftigt sind.
Wir sind ein Industriestaat, der kaum Rohstoffe besitzt und schon deshalb, aber auch wegen der sozialen Gerechtigkeit, ein gutes Bildungssystem braucht.
Stelle ich damit die föderale Struktur der Bundesrepublik zur Disposition? Mitnichten. Ich möchte aber, dass die Bundesregierung zumindest Rahmenbedingungen setzt und die Kultusminister mehr Druck erhalten, sich zu verabreden. Beispiel: In einem Bundesland werden die Kinder in der 6. Klasse getrennt. In einem anderen schon nach der 4. Jetzt wechselt eine Familie das Bundesland, das Kind kommt in die 7. Klasse und soll aufs Gymnasium, doch dort hat die gymnasiale Oberstufe bereits mit der 5. Klasse begonnen. Der Rückstand beträgt also zwei Jahre. Da hat dieses Kind ein verdammt schweres Los.
In Sachsen-Anhalt hat man zwei Klassen früher Physik als in Bayern. Ein bayerischer Beamter wird nach Sachsen-Anhalt strafversetzt – freiwillig würde er vermutlich dort nicht hingehen –, und sein Kind kommt in die Klasse, in der bereits seit zwei Jahren Physik unterrichtet wird. Der Bayernknabe hat davon noch nie etwas gehört.
Jetzt kommt gewiss der Einwand: Wie oft kommt so etwas schon vor? Oft genug, um diesen Unsinn bildungspolitischer Kleinstaaterei überwinden zu müssen.
Ich kämpfe für die Gemeinschaftsschule, die man nach der 10. Klasse verlassen kann oder nach dem Abitur. Und dann gibt es noch eine Erfahrung aus der DDR, die man sich auch hätte genauer anschauen müssen: die Berufsausbildung mit Abitur. Man ist von der Schule nach der 10. Klasse abgegangen und hat danach einen Beruf erlernt und gleichzeitig das Abitur gemacht. Das war sinnvoll, insbesondere wenn man diese Ausbildung als Vorbereitung zum Studium nahm. Wenn man Chemie studieren wollte, lernte man zuvor Chemiefacharbeiter. So erwarb man sich eine praktische Grundlage.
10. Abschaffung prekärer Arbeit
U nsere Gesellschaft wird immer tiefer gespalten. Der Reichtum nimmt zu, die Armut auch. Seit Beginn der 90er Jahre (bis 2011) hat sich das Nettovermögen der deutschen Privathaushalte von fünf auf zehn Billionen Euro verdoppelt. Die Hälfte davon verteilt sich jedoch auf zehn Prozent der Bevölkerung.
Aber 50 Prozent der Bevölkerung, sozusagen die untere Hälfte, besitzt von diesen zehn Billionen heute lediglich ein Prozent. (1998 waren es immerhin noch 4,5 Prozent.)
Noch dramatischer ist die Ausweitung des Niedriglohnsektors. Die Zahl der Leiharbeiter wächst unaufhörlich, ebenso die der Aufstocker, also jener Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die zum Jobcenter gehen und Zuschüsse zu ihrem niedrigen Gehalt beantragen müssen, um ihre und die Existenz ihrer Familien zu sichern. Die Fälle von erzwungener Teilzeitarbeit nehmen ebenfalls auffällig zu. Nicht zu vergessen die befristeten Arbeitsverhältnisse. Das alles, was
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