Wiedergaenger
aufs Essen konzentriert. Henny,
die Gepflegte, kaum jemals aus der Ruhe zu bringen, zeigt deutliche
Anzeichen von Stress. Ihrem rundlichen Gesicht fehlt das leichte
Lächeln, welches sie, wie viele Frauen ihrer Generation, als
charmante Dauerentschuldigung für die Flegelhaftigkeit ihres
Mannes einzusetzen versteht.
Ein tiefes Unbehagen erfasst Liv. Sie braucht eine Weile, um zu
begreifen, dass es auf Angst beruht. Verlustangst.Als Vorschulmädchen
wurde sie oft von Verlustängsten heimgesucht. Keine fünf
Minuten konnten ihre Eltern sie in der Wohnung zurücklassen, so
hat sie geschrien. Im ganzen Viertel sei es zu hören gewesen,
hat man ihr später erzählt. Sie erinnert sich: Das
Vertrauen fehlte.Egal, wie oft sie ihr versicherten, sie seien bald
zurück, Liv hat es nicht geglaubt. So wurde sie zur Ausreißerin.
Eine Gegenmaßnahme. Sobald sie allein bleiben sollte, ergriff
sie ihrerseits die Flucht -machte den Eltern damit einen Strich durch
die Rechnung. Wenn schon auf sich gestellt, dann wenigstens
selbstbestimmt. Sie hat lange nicht mehr daran gedacht, doch jetzt,
da dasAngstgefühl unerwartet zurückgekehrt ist, erkennt sie
es wieder und weiß es nicht zu deuten. Wahrscheinlich hängt
es mit jener Neuigkeit zusammen, die Tönges und Henny auf der
Seele liegt. Liv wünschte, sie würden sie für sich
behalten.
»Ich glaube, jeder ist satt, also bringen wir es hinter
uns«, sagt sie.
Der Tisch ist eingedeckt. Fritzi begutachtet ihr Werk und nickt,
es gibt nichts mehr zu korrigieren. Jetzt heißt es warten. Sie
ist erleichtert. Der Móri, der Braune, hat kein Glas
zerschlagen, nur ein wenig mit dem Besteck gespielt wie ein gänzlich
harmloses Hausgespenst. Schön ist es geworden. Das Porzellan ein
Geschenk von Großmutter Halldöra, denn Fritzi ist ja ohne
Aussteuer ins Land gekommen. Ein Sonnenstrahl kämpft sich durch
das Grau des Abends, bringt Geschirr und Kristall zum Funkeln, und
für einen Augenblick hat sie eine Vorstellung von der
Herrlichkeit des häuslichen Glücks, die Einar Kristján,
ihr Schwiegervater, in der Rede zu ihrer Hochzeit beschworen hat: die
erhabene Pflicht der Frau, ihre Mütterlichkeit in den Dienst der
Gemeinschaft zu stellen, die Familie zu einen und ihr Heim, sei es
auch noch so bescheiden, in einen Hort der Wärme, der Ruhe und
des Friedens zu verwandeln, auf dass jeder Mann die Empfindung
bekäme, zu großen Taten bereit zu sein. Dann wechselt das
Licht, und die fein gedeckte Tafel ist wieder eine fein gedeckte
Tafel, nicht mehr. Wie damals hat sie den Eindruck, verschaukelt
worden zu sein.
Sie stellt sich ans Fenster, die Auffahrt im Blick. Vorfrühling
in Island. Die Zeit zwischen Heu und Gras: Die Heuvorräte sind
verbraucht, und frisches Grün lässt auf sich warten, die
Weiden gelblich braun, die Schafe ausgemergelt vom langen Winter. Die
Tage sind kalt, aber lang, mit viel Helligkeit, wenn die Witterung es
zulässt. Weiter weg ist der Himmel blau, Fritzi sieht, dass im
Süden die Sonne scheint, ebenso im Norden und Westen. Nur über
Bjarg drängen sich die Wolken wie Lämmer im Pferch.
Die Standuhr schlägt sechs, dann sieben. Essenszeit. Es
schlägt acht - keiner kommt.Auch nicht um halb neun. Bevor das
Geläut die nächste volle Stunde anzeigen kann, stoppt
Fritzi das Pendel. Gab es vielleicht am Vormittag einen Anruf,
während sie bei den Kühen im Stall war? Hat sie vorhin
nicht das Telefon gehört, als sie Stunde um Stunde am Herd
stand, zu beschäftigt, um auf das Klingeln zu achten? Und wenn
schon, es ist eine Frechheit, sie warten zu lassen. Ein Jammer um das
gute Essen.
Ihre Verdienste um die Einheit der Familie sind als überaus
bescheiden anzusehen, das ist ihr nicht erst seit heute klar. Zu
ihrem Ärger über die Verschwendung bester Nahrungsmittel
für mindestens zehn Personen gesellt sich eine Portion
Weinerlichkeit und nach und nach Erleichterung. Es ist ihr ja bei
ihrer Einladung nicht zuerst darum gegangen, die Sippe satt zu
bekommen. Nein, sie hat kein geringeres Ziel verfolgt, als die
Tochter, die Enkel und Urenkel endlich wissen zu lassen, wer sie
wirklich ist. Wenigstens soweit sie selbst eine Ahnung davon hat. Sie
hat sogar erwogen, das dunkelste aller Geheimnisse zu verraten, das
unter den Lebenden nie erwähnt wird. Die Toten hingegen sprechen
zu ihr kaum noch von etwas anderem. Sie ist es leid, so leid.
Mit der Dämmerung
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