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Wiedergaenger

Wiedergaenger

Titel: Wiedergaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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kommt Wind auf, treibt weitere Wolken vom
Meer gegen den Hausberg, rüttelt an der blauen
Wellblechverkleidung des Holzhauses, saust durch undichte Stellen im
Dachstuhl. Das Heulen klingt für sie mal wie eine Anklage, mal
wie Hohngelächter.
    Lange nach Sonnenuntergang schlägt die Haustür auf und
zu, danach die Stubentür, und der Enkel betritt den Raum. »Alle
schon weg? Ist noch was übrig?«
    Er sieht den Tisch, das strahlend saubere Leinentuch, das
unbenutzte Geschirr, und sein Gesicht wird starr vor Empörung.
»Diese verfluchte Familie... diese Bande von ...«
    Sie unterbricht ihn. »Sag nichts. Es ist meine Schuld.«
    Â»Red keinen Unsinn. Die wissen einfach nicht, was sich
gehört. Keine Ahnung, warum das so ist.«
    Â»Weil es ihnen keiner beigebracht hat? Weil sie eine
schwierige Frau zur Mutter und Großmutter haben?«
    Â»Amma mín, lass das. Hör auf, dich
fertigzumachen, bitte. Du hast keinen Grund dazu. Die anderen sollten
sich schämen. Komm, wir wollen essen ... Ich sterbe vor Hunger.«
    Er setzt sich hin, Fritzi trägt auf. Beim Anblick der
Speisen, vom langen Warmhalten unansehnlich, zerkocht und in sich
zusammengefallen, packt sie die Wut, und sie fegt mit der flachen
Hand ein Gedeck vom Tisch: den Teller, Messer, Gabel, Löffel,
das Wasser und das Weinglas, das auf den harten Holzbohlen
zerspringt. Der Enkel schaut zu, steht vom Stuhl auf und macht es ihr
nach, ohne ein Wort darüber zu verlieren.Also fährt sie
ebenfalls fort mit dem Ungeheuerlichen, als wäre es das
Normalste der Welt, sich auf diese Weise von überflüssig
gewordenem Hausrat zu befreien. Es klirrt und poltert wunderbar, als
immer mehr zu Bruch geht, dazu das Gejauchze des Windes. Das Meer
applaudiert.
    Sie lassen nichts stehen außer den beiden Gedecken an der
Stirnseite der Tafel. Schließlich wollen sie davon ja noch
essen.
    Â»Heute machen wir reinen Tisch«, sagt sie in ihrer
Muttersprache und kichert wie ein Mädchen.
    Der Enkel nickt. »Ich werde uns mal die Kerze anzünden.«
Sein Deutsch ist nahezu akzentfrei. Er hat in Köln studiert.
    Dinner im Kerzenschein, vor den Fenstern jetzt stockfinstere
Nacht. Es schmeckt nicht besonders,wie sollte es auch. Die Stimmung
ist heiter, viel zu heiter, um das dunkelste der Geheimnisse zu
lüften, sie gibt den Plan auf. Sicher ist Feigheit im Spiel,
aber nicht nur: Er ist ein guter Erzähler, könnte sich
glatt mit seinem Großvater Jön messen. Im Beruf und mit
seinen Freunden erlebt er lustige Dinge. Sie will lieber nur zuhören
und mit dem Wind lachen, als selbst zu reden. Fritzi hat ein lautes
Lachen. Sie weiß, dass er es gern hört.
    Er gibt sich die größte Mühe, die fehlenden Esser
zu ersetzen, schafft beinahe zwei Forellen, das Fleisch der
Papageientaucher und bergeweise süßes Kartoffelpüree.
Hinterher trinken sie jeder zwei Brennivín, isländischen
Schnaps, was die Heiterkeit weiter ankurbelt, sie werden geradezu
ausgelassen.
    Fritzi hat auch lustige Geschichten parat. Zum Beispiel die von
ihrer Ankunft in Island im Juni 1949. Es ist zwölf Grad kalt,
als die Esja in der Bucht von Reykjavík vor Anker geht und ein
Regensturm der Stärke neun über dem Wasser tobt. Dann
beruhigt sich das Wetter wie durch Zauberei, und das Meer ist
plötzlich glatt wie ein Spiegel, der Himmel klar. Glutrot
versinkt die Sonne hinter einem Gletscher im Westen. Von Dunkelheit
keine Spur. Sie beschreibt dem Enkel detailliert die Silhouette der
Tafelberge, die mit ihren weiten Gipfelebenen in ein mildes,
sonderbares Licht getaucht sind. Er lauscht geduldig.
    An Bord des Dampfschiffes befinden sich 184 junge Leute aus
Deutschland, hauptsächlich Frauen. Ihre Einreise, das haben die
Seeleute erzählt, hat bereits für Diskussionen gesorgt:
Darf man die Folgen der grassierenden Landflucht, die vor allem die
weibliche Bevölkerung erfasst hat, ausgerechnet mit dem Anwerben
jugendlicher Fräuleins aus dem besiegten Nazireich kurieren?
    Obschon für die Landarbeit auf entlegenen Höfen
bestimmt, erregen sie Aufsehen in der Inselhauptstadt. Kaum einen Tag
liegt das Schiff auf Reede, da nähern sich vom Hafen her Boote,
eine ganze Armada weiß-grün getünchter Ruderboote aus
Holz, einige Jollen, ein roter Fischkutter, sämtlich vollbesetzt
mit Männern, die pfeifen und rufen und winken. Die Frauen stehen
an der Reling und rufen und winken zurück,

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