Wiedergaenger
bessert
sich. Ein Beamter unterzeichnet die behördliche Genehmigung, und
es kann endlich losgehen.
Die Routine der letzten Minuten. Nichts mehr zu bedenken. Liv
könnte sich freuen, über das sonnige Frühlingswetter,
mild und windstill, wie vorhergesagt, über ihre Mitarbeiter, die
unaufgeregt und konzentriert bei der Sache sind, und über den
enormen Werbeeffekt eines solchen Auftrags für das Unternehmen.
Doch die Freude stellt sich nicht ein. Sie denkt an die Interviews,
die sie nach der Sprengung geben wird. Eigentlich liegt ihr das
Zusammenspiel mit den Medien. Heute würde sie am liebsten
kneifen, wie Tönges früher. Journalisten waren ihm nicht
geheuer. Vielleicht lässt er sich deswegen nicht blicken, obwohl
sie fest mit ihm gerechnet hat. Er fehlt. Beim Familientreffen auf
Fehmarn haben sie sich zuletzt gesehen, seit Tagen telefoniert Liv
ihm hinterher. Sein Mobiltelefon ist entweder abgeschaltet, oder er
geht nicht dran.
Je länger sie an ihren Großvater denkt, desto
schlechter wird Livs Laune. Ãœberall Dreck und Staub. Unter dem
Schutzhelm kleben ihre Haare am Kopf, es könnte Juli sein oder
August, so sehr sticht die Sonne. Die dunkle Softshell-Arbeitsjacke
ist zu warm, Liv bewegt sich wie im Fieber, sie hat Durst und blickt
gierig auf die Wasserwerfer der Feuerwehr: Regenbogenfarben, die über
den Fontänen tanzen, zwanzigtausend Liter in der Minute, um den
Staub zu binden. Sie kann den Schwindel nicht abschütteln, fühlt
sich seltsam beengt, geradezu beklommen. Vorhin diese Zerstreutheit,
nun das. Was ist los mit ihr? Es kann nicht angehen, dass sie an
einem solchen Tag dermaßen neben sich steht.
Als die Zündmaschine bereit ist, gibt Volker das erste
Signal: Ein langer Fanfarenstoß fordert auf, in Deckung zu
gehen. Bald darauf folgen zwei kurze: Kismet, jetzt wird gesprengt.
Liv betätigt den Auslöser und schaut zum Himmel empor.
Schäfchenwolken. Ein Polizeihubschrauber kreist über dem
Gelände. Fünfmal knallt es gewaltig. Es entstehen
Druckwellen,die unter den Schaulustigen hinter den Absperrungen
hysterischen Jubel auslösen.
Warum ist Tönges nicht hier?
Und wo, zum Teufel, steckt Aaron?
» Ã
Frühjahrsblumen
Es stinkt.Als Liv den Flur betritt, reicht einAtemzug, um ihr
bewusst zu machen, dass es keine gute Idee war, einen
Vierzehnjährigen fast eine Woche lang sich selbst zu überlassen,
von regelmäßigen Kontrollanrufen abgesehen. Sie geht ins
Wohnzimmer, öffnet die Fenster und begutachtet das Chaos: Pizza,
Hamburger, Chinesisch und Kartoffelchips:Aarons Speiseplan der
vergangenen Tage ist leicht zu rekonstruieren, er hat nicht nur die
Verpackungen, sondern auch Reste herumliegen lassen. Kein schmutziges
Geschirr, das ist tröstlich, er benutzt keines. Und er wechselt
häufig die Socken, zumindest nach den zahlreichen benutzten
Paaren auf dem Sofa zu schließen. Wenn Janko das zu sehen
bekäme. Ursprünglich war abgemacht, dass ihr Exmann täglich
vorbeischaut, sollte Liv geschäftlich verreisen müssen.
Aarons Bitten entsprechend, hat sie Janko diesmal testweise nicht
benachrichtigt. Test nicht bestanden.
Liv ruft nach ihrem Sohn. Keine Antwort. Er ist nicht zu Hause,
was sie nachvollziehen kann.An seiner Stelle hätte sie ebenso
das Weite gesucht. Sie ist müde, zu müde, um angemessen
empört zu sein, hinter ihr liegt eine anstrengende Woche:
Unterwassersprengungen bei Leer in Ostfriesland, alte Brückenpfeiler,
stabiler, als erwartet, dann heute früh die Rückfahrt, fünf
Stunden durch den Regen, plattes Land, entnervte Pendler, fünfzehn
Kilometer Stau bei Hamburg. Sie will jetzt keinen Streit. Nur frische
Luft und Ordnung, also telefoniert sie mit ihrer Haushaltshilfe, Frau
Köhler, schildert den Fall und bittet sie, gegen ein
Schmerzensgeld ihrer Wahl außer der Reihe vorbeizukommen. Frau
Köhler, üblicherweise für jeden Cent dankbar, lehnt
brüskiert ab, aus Prinzip, wie sie betont. Liv hat das
Bedürfnis, sie zu feuern, ebenfalls aus Prinzip. Doch sogar
dafür ist sie zu müde. Sie greift nach einer fast leeren
Chipstüte, isst die letzten Krümel und geht ins
Schlafzimmer, wo sie sich in Kleidern auf das Bett legt und sofort
einschläft.
Über Nacht ist die Hauswiese ergrünt. Das trockene
vorjährige Gras hat sich in frisches verwandelt, der Duft
beschwippst die Singvögel in den Lüften und die Kühe
im Stall. Ihr
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