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Wiedergaenger

Wiedergaenger

Titel: Wiedergaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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jedem Ziegel einzeln
verabschieden.. Seinetwegen ist sie den ganzen Morgen schon
geistesabwesend. Das Zusammensein mit einem derart unversehrten
Menschen ähnelt dem Tragen neuer Schuhe: ständig diese
Furcht vor dem ersten Kratzer. Ob es falsch war, ihn mitzunehmen? Sie
stehen im Erdgeschoss der einstigen Metallhüttenfabrik in
Lübeck-Herrenwyk, ein letzter Kontrollgang vor der Sprengung,
draußen warten Tausende Schaulustige – und Aaron
streichelt Steine.
    Â»Und wenn es nicht fällt?«, fragt er. »Wenn
es einfach stehen bleibt?«
    Â»Es wird fallen. Du wirst sehen.«
    Â»Wahnsinn.« Er versetzt der Mauer einen Klaps. »Pech
gehabt, altes Haus.«
    Sie gehen weiter, leuchten mit Taschenlampen jeden dunklen Winkel
ab, die Schritte hallen. Sonst Stille, kein Laut von dem Trubel im
Freien durchdringt die dicken Mauern. Aaron lässt sich sehr viel
Zeit. Liv erlaubt ihm die Langsamkeit, weil sie ein gewisses
Verständnis dafür hat. Dies ist seine erste
Gebäudesprengung. Eine große Sache. Schlagartig schießen
einem jede Menge Dinge durch den Kopf, man fühlt sich
gleichzeitig klein und riesengroß, hilflos und überlegen.
Jedenfalls ist es ihr so ergangen. Vor ungefähr hundert Jahren.
Mit zwölf.
    Â»Angenommen, du würdest mich hier vergessen. Hätte
ich eine Überlebenschance?«
    Â»Begraben unter zweitausend Tonnen Schutt? Was denkst du
wohl?«
    Er grinst. »Wahnsinn. Zweitausend Tonnen. Ist das cool, oder
was?«
    Liv muss lächeln. Sein Respekt ist eine neue Erfahrung,
goldig, aber leider trügerisch und ganz sicher unverdient, denn
es ist ja allein ihre Arbeit, die Eindruck schindet. Seit Tagen
begleitet Aaron sie, hat sich unter Anleitung schon nützlich
gemacht: am Schweißbrenner, am Hydraulikbohrer, beim Anbringen
von Schneidladungen. Um nichts zu versäumen, steht er sogar früh
auf, klaglos, obwohl Osterferien sind und er ausschlafen könnte.
Ein glücklicher Zufall: der Großauftrag nicht wie so oft
am anderen Ende der Republik, sondern beinahe vor der Haustür.
    Sie betreten den Keller.
    Â»Hier liegt ja noch massenweise Gerümpel rum«,
sagt Aaron und lüftet eine Abdeckplane. Darunter halb verrottete
Werkbänke, das Holz stinkt nach Fäule und Mäusedreck.
    Â»So ist das meistens. Hinterher wird alles entsorgt.«
    Â»Vielleicht kann man die noch verwenden.«
    Â»Dann stünden sie nicht mehr hier. Die Kollegen haben
sich den Krempel genau angesehen, als wir das Gebäude übernommen
haben. Na los, es wird Zeit, wir müssen raus hier. Lass das
liegen,Aaron, das ist alles gammeliger Schrott.«
    Leises Rascheln lässt ihn zusammenfahren. Die Plane bewegt
sich, und zum Vorschein kommt eine Maus, keine Ratte immerhin. Das
Tier flieht über den nackten Boden, zwei weitere folgen, auch
Liv erschrickt. Danach folgt Aaron ihr bereitwillig ins Freie, wo er
irgendwie abhandenkommt. Sie vermutet, er trifft Freunde jenseits der
Absperrung. Das ist okay, aber er hätte sich abmelden müssen.
Liv ist verärgert.
    Der Zeitplan ist nicht mehr einzuhalten. In der Einsatzleitstelle
regt sich Unmut, zehn Minuten Verspätung, zu viel, wenn Polizei,
Technisches Hilfswerk und Feuerwehr beteiligt sind. Die
Uniformierten, Männer, die man nicht warten lassen sollte, gute
Bekannte von Tönges, schmollen kommentarlos, aber die
verbrauchte Luft im Container schmeckt nach Testosteron. Es ist heiß,
die Scheiben beschlagen. Der Holländer nickt Liv zu und tippt
auf seine Armbanduhr, Schweißperlen auf der Stirn.
    Liv räuspert sich. »Meine Herren, können wir
dann?«
    Â»Wir können schon lange. Zeit ist Geld.Wissen Sie
eigentlich, was der ganze Spaß hier den Steuerzahler kostet?«,
sagt der Einsatzleiter vom Technischen Hilfswerk, ein Koloss mit
roter Haut und unreifen Gesichtszügen.
    Â»Wissen Sie es?«, entgegnet Liv, bemüht, sich
nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Die Ehrenamtlichen sind ihr
meistens zuwider. Diese kleinen Seelen, die ständig ihre
Wichtigkeit demonstrieren müssen, Versager im Alltag, süchtig
nach Blaulicht.
    Sie schwitzt jetzt auch, müsste sich eigentlich kurz setzen,
damit ihr nicht schwindelig wird, und bleibt trotzdem stehen. Einen
Augenblick dreht sich alles. Die Einsatzbesprechung ist kurz. Sie
hört sich reden, wie sie es immer tut, Zahlen und Fakten, das
scheint zu funktionieren, sie klingt kompetent, die Stimmung

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