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Wiedergaenger

Wiedergaenger

Titel: Wiedergaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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nicht.«
    Liv zuckt mit den Schultern. Sie ist anderer Meinung und muss an
Henny denken: Scheidung mit über siebzig.
    Â»Als ich Deutschland verließ, sagte ich meiner Mutter
nichts von meinen Plänen, kein einziges Wort. Ich ging morgens
aus dem Haus und kam abends nicht zurück. So einfach war das
damals. Bei der Botschaft gab ich ein falsches Alter an, ich war ja
noch minderjährig. Da hat niemand nachgefragt.«
    Â»Haben Sie Ihre Mutter wiedergesehen?«
    Â»Nein. Ich habe sie gehasst.«
    Der Sohn zieht die Nase hoch.
    Liv gestattet sich ein Nachhaken aus purer Neugier: »Warum?«
    Rúnar schüttelt den Kopf über sie.
    Â»Warum, wollen Sie wissen? Warum? Was geht Sie das an?
    Haben Sie nicht mit Ihren eigenen Leuten genug um die Ohren?«
    Rúnar ist immer noch am Kopfschütteln. Liv,
unzufrieden mit ihm und sich gleichermaßen, will die Frage
zurückziehen, doch es ist zu spät, denn die Alte holt
bereits weit aus, wappnet sich mit reichlich Atem für einen
Monolog, der ganz sicher schon länger auf ihrer Zunge brannte,
auch wenn sie das selbst nicht wahrhaben mag:»Meine Mutter hat
meinen Vater auf dem Gewissen. Als die Nazis ihn für nicht
arisch erklärten, weil sein Vater ein Zigeuner war, ließ
sie sich scheiden.Abgeholt haben sie ihn. Zwangsarbeit im Bergwerk,
das hat er nicht überlebt. Vorher ist er Rennen in Hamburg
gefahren. Im Volkswagen.« Mitten im Reden steht sie auf und
beginnt den Tisch abzuräumen. Liv hilft.
    Â»Zwei Mal im Jahr musste ich zum Arzt,da wurde kontrolliert,
ob ich normal entwickelt bin. Wegen des minderwertigen Blutes. Der
Doktor hat sich immer einen Spaß daraus gemacht, mir Angst
einzujagen. Hat mich vermessen und beglotzt und betatscht und mir
Rechenaufgaben gestellt, die viel zu schwer für mich waren. Bis
ich geweint habe. Gebettelt. Ich wusste ja, von seiner Unterschrift
hängt alles ab. Ob ich auch abgeholt werde oder nicht. Verstehen
Sie das? Abgeholt.«
    Sofort gehen alle Blicke zum Fenster hinaus, als müsse man
sich nach all den Jahren selbst hier am Ende der Welt weiterhin vor
denjenigen fürchten, die in Deutschland für das Abholen
zuständig waren.
    Gudrun Reiser schüttet die Reste von den Tellern zurück
in einen großen Topf auf dem Herd. »Ich wollte weg, nur
weg nach dem Krieg. Wohin, war mir egal. Das ging uns fast allen so
auf der Esja. Jede Frau hatte ihre Gründe. Lauter kleine und
große Geheimnisse. Wir waren keine geborenen Landfrauen, wir
wussten nichts von dem Dreck und dem Gestank und der Kälte. Ich
kann mich nicht beklagen, es war kein schlechtes Leben hier.
Deutschland habe ich nie vermisst. Und jetzt kommen Sie und rümpfen
die Nase über meinen Haushalt und die Milch und wühlen
alles wieder auf, die ganzen schlimmen Jahre. Schämen sollten
Sie sich.«
    Liv spürt, wie ihre Miene entgleist, einerseits weil sie
sich, der Aufforderung entsprechend, tatsächlich schämt,
gleichzeitig ist sie aber auch verärgert, denn schließlich
hat sie sich nicht gewaltsam Zutritt in dieses Haus verschafft, ihr
Besuch war als solcher angekündigt, es war klar, dass Fragen
gestellt werden würden. Und eine dreckige Küche ist eine
dreckige Küche. Liv sieht nicht, was das eine mit dem anderen zu
tun haben soll. Will es nicht sehen.
    Rúnar sagt etwas auf Isländisch. Er macht inzwischen
einen reichlich betrübten Eindruck, obgleich man die Situation
durchaus komisch finden könnte – mit ein wenig gutem
Willen zumindest.
    Liv greift sich das Milchglas, das als Beweismittel der Anklage
auf dem Tisch stehengeblieben ist, und leert es in einem Zug. »Ich
wollte Sie wirklich nicht beleidigen, Frau Reiser«, sagt sie
anschließend. »Vergessen Sie meine Fragen. Und bitte
entschuldigen Sie die Störung.«
    Rückzug. Sofort. Ohne Gruß verlässt Liv erst die
Küche, dann das Haus.
    Aber wohin? Ãœberall Wiesen, nichts als Wiesen im Trüben.
Kälte, die nach winterfaulen Gräsern und Wasser riecht. Die
Weite des Landes, unsichtbar wegen des Nebels und dabei
allgegenwärtig, fordert Liv heraus, führt ihr die eigene
Bedeutungslosigkeit vor, zugleich hat sie sich nie wichtiger genommen
als in diesen Tagen auf der Suche nach Tönges – und
vermutlich auch nach Identität.
    Irgendwo in der Ferne rauscht ein Fluss, es könnten auch
mehrere sein, ein Gewirr von Bächen, ineinanderfließend,
ein

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